Dank Romanes, ihrer gemeinsamen Sprache, verstehen sich Roma-Gruppen auf der ganzen Welt. Diese beiden Romnja leben in Argentinien.
Foto: Nestor Galina/Flickr CC BY 2.0

 

Eine Sprache umspannt die Welt – nicht etwa Englisch, sondern Romanes. Sie ist die Muttersprache aller Roma-Gruppen weltweit. Wir haben mit dem Sprachwissenschaftler Prof. Dr. Hristo Kyuchukov, führender Spezialist in den Bereichen Romanes und Bildung für Roma-Kinder in Europa, gesprochen: über die Gefährdung der Sprache, die Idee hinter bilingualen Kinderbüchern und eine grammatische Form für Gerüchte.

Unser Interviewpartner, der Sprachwissenschaftler Dr. Hristo Kyuchukov.
Foto: © Hristo Kyuchukov

Woher kommt Romanes?

Die Sprache Romanes kommt aus Indien. Vor etwa 1000 Jahren sind die Roma aus Indien nach Europa geflüchtet. Zu dieser Zeit nannten sich die Leute noch nicht Roma. Sie waren Menschen mit einem indischen Hintergrund. Sie haben verschiedene Sprachen und Dialekte von Sprache gesprochen. Die Romanes-Sprache hat sich auf dem Weg von Indien nach Europa etabliert. In Romanes gibt es etwa 80 bis 85 Prozent Wörter aus indischen Sprachen wie Hindi, Panjabi, Gujarati und natürlich Sanskrit. Aber es gibt auch Wörter aus der armenischen Sprache, der kurdischen Sprache, aus iranischen Sprachen und der griechischen Sprache. Aus dieser Kombination entstand Romanes. Es gehört zu den neuindischen Sprachen, zu den indoarischen Sprachen.

Später, in den vergangenen 200 oder 300 Jahren, kamen noch andere Einflüsse aus der türkischen Sprache oder rumänischen Sprache und verschiedenen slawischen Sprachen dazu.

 

Wie viele Leute sprechen die Sprache heute ungefähr?

Der Europarat sagt, dass in Europa heute zwischen 12 bis 14 Millionen Roma leben. Die UNESCO schätzt aber, dass nur etwa dreieinhalb Millionen Roma Romanes sprechen. Deswegen steht Romanes auf der Liste der gefährdeten Sprachen, die aussterben könnten.

 

Wie kommt es, dass so viele Roma die Sprache nicht mehr sprechen?

Das liegt an der ganzen Situation und der Geschichte der Roma in Europa. In den vergangenen 300 oder 400 Jahren war die ganze Politik gegen Roma gerichtet. Sie war sehr diskriminierend und auf Assimilation aus. In Rumänien und Moldawien wurden Roma zum Beispiel die Zungen abgeschnitten, wenn sie Romanes gesprochen haben. Die Roma im heutigen Rumänien waren zwischen 1400 und 1862 Sklaven. Deswegen sprechen die meisten rumänischen Roma heute kein Romanes mehr. Sie haben die Sprache verloren.

In Österreich-Ungarn gab es ein Gesetz von Königin Maria Theresia (1717 bis 1780; Anm. d. Red.), dass neugeborene Kinder Roma-Familien weggenommen und in ungarische Familien gegeben wurden. Das ist ein Grund, warum ein Teil der ungarischen Roma kein Romanes mehr spricht. Ähnlich war die Situation in Spanien mit der katholischen Kirche. Die katholische Kirche hat Restriktionen gegen Roma und vor allem Roma-Frauen erlassen. In Finnland war es ähnlich.

Deswegen sprechen die spanischen und finnischen Roma heute kein Romanes, sondern eine ähnliche Sprache. Sie beinhaltet noch einige Wörter aus Romanes, aber im Grunde ist es eine andere Sprache. Solche Sprachen heißen Para-Romani (Para-Romani sind Sprachen, bei denen Wortschatz, Syntax und Morphologie von einer Kontaktsprache dominiert sind; Anm. d. Red.).

Und auch in den vergangenen hundert Jahren hielt die Diskriminierung gegen Roma an – nur, weil sie die Sprache benutzen und nur, weil sie Roma sind! Das ist bis heute so. Wenn du heute in vielen osteuropäischen Ländern Romanes sprichst oder wie ein Roma aussiehst, ist es egal, welche Bildung du hast, was für Qualifikationen du hast. Du findest keine Arbeit. Die Diskriminierung dort ist immer noch sehr groß. Deswegen sagen die Alten zu den Kindern oft, dass sie die Sprache nicht sprechen sollen. Das sei gefährlich. Auch Eltern sprechen nicht mit ihren Kindern auf Romanes. In der Türkei hat ein großer Teil der Roma ihre Sprache übrigens ebenfalls verloren, weil sie nicht in der Gesellschaft akzeptiert sind.

 

Gehen wir noch mal ein bisschen zurück. Roma ist ja ein Oberbegriff für mehrere Gruppen. Und alle Gruppen sprechen Romanes?

Alle Gruppen sprechen Romanes. Aber wie gesagt, die Roma in Argentinien oder in Chile oder in Peru haben Einflüsse aus dem Spanischen. Wenn sie Romanes sprechen, verwenden sie manchmal spanische Wörter. Gleichzeitig verwenden Roma aus slawischen Ländern slawische Wörter. Aber sie verstehen sich. Bei Wörtern aus zum Beispiel Spanisch oder Russisch oder Serbisch kann man immer fragen, was der andere mit diesem Wort meint.

 

Soweit ich weiß, ist Romanes weitgehend nicht verschriftet. Ändert sich daran etwas?

Ja, die Sprache war bis jetzt mündlich überliefert. Sie ist eine orale Sprache. Aber trotzdem gibt es viele Publikationen. Die allerersten Publikationen sind sogar schon etwa 300 Jahre alt. Das sind kurze Grammatiken oder kurze Lexika.

Seit den vergangenen 30/40 Jahren versuchen die Roma von Europa die Sprache zu standardisieren, sie zu unifizieren. Das bedeutet aber nicht, dass die Menschen die Sprache nicht schreiben, nur weil es keinen Standard gibt. Es gibt viele Bücher mit Märchen oder Liedern, die in den vergangenen Jahren publiziert wurden. Grammatiken der Roma-Sprache gibt es auch in verschiedenen Ländern. Es gibt Schulbücher, um Romanes zu lernen, in der Schule, in Kitas. Und es gibt Kinderbücher. Ich bin einer der Autoren. In den vergangenen Jahren habe ich auch angefangen, bilinguale Kinderbücher zu schreiben: Romanes und Deutsch zum Beispiel, Romanes/Englisch, Romanes/Bulgarisch, Romanes/Türkisch.

 

Was ist die Idee dahinter?

Wenn in einem Land Kinder wohnen, zum Beispiel hier in Deutschland, sprechen die Kinder zuhause zwar Romanes, aber in der Kita und in der Schule sprechen sie Deutsch. Deswegen verstehen die Kinder manchmal besser Deutsch, die offizielle Sprache, als die Muttersprache. Die Kinder sollen aber beide Sprachen entwickeln, um in beiden Sprachen fließend zu sein, auf gleichem Niveau. Das ist die Idee hinter solchen Kinderbüchern.

 

Können Sie mir Besonderheiten von Romanes beschreiben, die Sie besonders faszinieren?

In Romanes gibt es acht Fälle – wie Akkusativ, Dativ und so weiter, aber acht. Außerdem gibt es verschiedene Zeitformen – Präsens, Zukunft. Aber es gibt noch eine besondere Form, um über Klatsch und Tratsch zu reden. Das gibt es, glaube ich, nicht in vielen Sprachen. Es gibt in Romanes also eine extra grammatische Form, um über Gehörtes, Gerüchte zu erzählen.

Was ich noch sehr interessant finde: Alle Nomen sind in zwei Kategorien eingeteilt: lebendig oder nicht-lebendig. „Pferd“ gehört zum Beispiel in die Kategorie lebendig, „Buch“ in die Kategorie nicht-lebendig. Das ist wichtig, wenn man die Nomen dekliniert. Dann bekommen sie je nach Kategorie verschiedene Endungen. Auch Demonstrativpronomen zum Beispiel sind für die beiden Kategorien komplett unterschiedlich. Sehr interessant für Linguisten.

 

Gibt es in der deutschen Sprache Begriffe, die aus dem Romanes kommen?

Für die deutsche Sprache weiß ich es nicht. Aber ich kenne Beispiele aus anderen Sprachen. In Bulgarisch gibt es etwa das Wort gadzhe. Das ist aus Romanes. Im Bulgarischen bedeutet es „fester Freund“. Aber in Romanes bedeutet es: „Jemand, der nicht Roma ist“. In Englisch gibt es das Wort Lollipop (dt.: Lutscher). Das kommt von dem Romaneswort „Lollibabai“ und bedeutet „roter Apfel“. Solche Beispiele gibt es aus vielen Sprachen.

 

Und andersrum? Gibt es in Romanes Begriffe, die aus dem Deutschen kommen?

Bei Deutsch fällt mir gerade kein Begriff ein. Aber allgemein aus dem Englischen gibt es viele. Alle diese internationalen Wörter wie Computer oder Mobilphone (Handy).

 

Gibt es Bemühungen und Programme, um die Sprache wieder weiter zu verbreiten?

Zurzeit gibt es nur Empfehlungen des Europarats. Aber diese Empfehlungen sind nicht obligatorisch. Die Mitgliedsstaaten der EU können diesen Empfehlungen folgen oder auch nicht. Ansonsten gibt es keine europaweite Institution oder Ähnliches, die Druck auf Regierungen ausübt, dass sie die Sprache erhalten oder entwickeln.

Normalerweise gibt es aber Vereine und Nichtregierungsorganisationen, Roma-Organisationen, die versuchen, die Regierungen unter Druck zu setzen, dass sie den Empfehlungen des Europarats folgen. In jedem Land müssen Kinder ihre Muttersprache Romanes lernen. Es muss Bücher geben. Aber europaweit kümmert sich niemand.

 

[Info] Johanna Fischotter führte das Interview am 02. Februar 2022 per Videoanruf.



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