19.06.2010

Aleviten in der Türkei – zwischen Kemalismus und Islamismus

Veranstaltungsbericht

Göttingen, Victor-Gollancz-Haus

"Was wir in der Europäischen Union bereits erreicht haben, ist in der Türkei nicht möglich"

Im Rahmen ihrer Kampagne "Die Türkei: Nicht reif für Europa!" lud die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) interessierte Bürger zu einer Diskussionsveranstaltung über die Religionsgemeinschaft der Aleviten ein. Der derzeit in Köln ansässige Ali Ertan Toprak, selbst Alevit und Generalsekretär der Alevitischen Union Europa, wurde zu diesem Thema im Bundesbüro der GfbV in Göttingen empfangen, um von den widrigen Lebensumständen der in der Türkei lebenden Minderheit zu erzählen.

Nach einer kurzen Begrüßen von Tilman Zülch, Bundesvorsitzender der GfbV Deutschland, und Dr. Kamal Sido, dem Nahostexperten der GfbV und Organisator der Veranstaltung, begann der äußerst informative Vortrag von Herrn Toprak. In der Türkei, so schildert er, leben bis zu 20 Millionen Aleviten. Doch dort wird diese eigenständige Glaubensgemeinschaft offiziell nicht anerkannt. Diese Diskriminierung hat seit der Zeit des Osmanischen Reiches (1299 - 1923) bestand. "In dieser Zeit mussten sie Massaker und Gewalt erleiden", so das ehemalige Mitglied des Stadtrates in Recklinghausen, Toprak. Und das nur aufgrund ihrer Religion.

Aleviten gehen nicht in Moscheen um zu beten, sondern ins "Cem-Haus". Dort lesen sie nicht aus einer heiligen Schrift, sondern sie singen traditionelle Lieder, beten und tanzen gemeinsam, um Gott näher zu sein. Sie verehren Ali ibn Abu Talib, der ihnen – ähnlich wie den Schiiten – als erster Imam gilt. "Im Vordergrund des alevitischen Glaubens", erklärt Toprak, "steht der Humanismus und die Auffassung einer gerechten und toleranten Gesellschaft, die Menschen nicht nach Sprache, Hautfarbe, Geschlecht oder Religion verurteilt oder selektiert". Es ist nicht Ziel des Alevitentums, dass sich der Mensch der Religion unterordnet.

Das Ende des Osmanischen Reiches und der Beginn der durch Mustafa Kemal Atatürk initiierten türkischen Republik, 1938, bedeuteten allerdings keineswegs ein Leben in Freiheit für die Minderheit. Beide politischen Systeme waren und sind sunnitisch geprägt. Und obwohl Atatürk die Trennung von Staat und Religion vorsah, was vor allem bei Aleviten aufgrund der Jahrhunderte lang andauernden Diskriminierung großen Beifall fand, blieb es letztenendes bei der Unterdrückung der Aleviten und anderen Minderheiten durch die sunnitisch geprägte türkische Republik, was sich bis heute vorsetzt.

Atatürk sah vor, aus einem Vielvölkerland einen einheitlichen Nationalstaat zu machen. "Doch die heutige Türkei ist immer noch ein Vielvölkerstaat – auch wenn es viele Türken und die türkische Regierung nicht wahrhaben wollen", meint Toprak.

Im Laufe seines Vortrags führt der Generalsekretär der Alevitischen Union Europa die Diskriminierungsvorwürfe gegen die Türkei aus. In der Schule müssen alevitische Kinder am sunnitischen Religionsunterricht teilnehmen. Dass sie Aleviten sind, wird den Kindern oftmals erst mit der Einschulung mitgeteilt und die Eltern weisen sie darauf hin, dass sie ihre Zugehörigkeit weder Lehrern noch Mitschülern verraten dürfen, da sie sonst mit Prügeln oder Benachteiligung in der Notenvergabe zu rechnen haben. Toprak weist die Anwesenden darauf hin, dass es mittlerweile sogar in sieben deutschen Bundesländern alevitischen Religionsunterricht gibt und fügt hinzu: "Was wir in der Europäischen Union bereits erreicht haben, ist in der Türkei nicht möglich".

Zum Schluss seines Vortrags spricht er noch über einen Vorfall aus dem Jahr 1993 in Sivas, einer Region, die sich im Herzen der Türkei befindet. Die türkisch-sunnitischen Extremisten belagerten ein Hotel, in dem sich einige Aleviten aufhielten. Als diese sich im Gebäude verschanzten, zündete der Mob das Hotel an. Bei diesem "Massaker" kamen 37 Menschen ums Leben. Die Aleviten fordern, dass dieses Hotel zu einer Gedenkstätte umgewandelt wird, doch dabei stoßen die alevitischen Verbände bei der Regierung in Ankara auf taube Ohren.

In seinem Schlussplädoyer wies Herr Toprak mit Nachdruck darauf hin, dass es zwingend erforderlich für die türkische Regierung sei, auf die Aleviten und andere Minderheiten in der Türkei zuzugehen. Nur über den Dialog kann man die schwarzen Flecken der Vergangenheit beseitigen. Rechtsstaatliche Maßnahmen (Minderheitenschutz, freie Religionsausübung) müssen initiiert und beschleunigt werden, damit die Türkei überhaupt eine Chance hat, in die Europäische Union einzutreten.

Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) fordert:

• Anerkennung des Alevitentum als eigenständige Religion in der Türkei

• Aufarbeitung der Vergangenheit (Zum Beispiel ein Andenken für die Opfer des Massakers von Sivas)

• Alevitischer Religionsunterricht in türkischen Schulen

• Einrichtung eines eigenen Amtes für Religiöse Angelegenheiten

• Abschaffung aller Schranken, die die Aleviten in der Ausübung ihrer Religion behindern