26.04.2005

American Indian Movement: Die letzte Hoffnung eines geschlagenen Volkes

Am späten Abend des 27. Februar 1973 verlässt eine Schar von 300 Oglalla-Sioux, darunter auch Anhänger des American Indian Movement (AIM), einer pan-indianischen Protestorganisation, in einem langen Fahrzeugkonvoi Pine Ridge in South Dakota und fährt zur 25 Kilometer entfernten Siedlung Wounded Knee. Die Siedlung besteht aus einigen Häusern, einem Handelsposten, beherbergt 40 Einwohner, und liegt innerhalb der Pine Ridge Reservation.

In Wounded Knee angekommen, übernehmen die Aktivisten das Kommando. Sie plündern den Handelsposten, bringen elf Einwohner als Geiseln in ihre Gewalt, verbarrikadieren sich in der Kirche und heben Schützengräben auf der Anhöhe aus. Ihre Forderungen: eine Überprüfung aller 371 zwischen der US-Regierung und Indianern geschlossenen Verträge durch Senator Fulbright im Senatsausschuss für auswärtige Angelegenheiten; eine Untersuchung des Verhaltens des Innenministeriums und des Bureau of Indian Affairs (BIA) gegenüber den Oglalla durch ein weiteres Komitee unter Ted Kennedy; die Absetzung des Stammesrates und eine Änderung der Stammesverfassung, die noch auf den Indian Reorganization Act von 1934, ein Relikt der Rooseveltzeit, zurückgeht.

Am nächsten Morgen sperren mehr als 100 US-Marshals die Straßen nach Wounded Knee hermetisch ab. Zunächst fliegen zwei Senatoren ins Unruhegebiet, verhandeln mit den Aufständischen und erfahren erstaunt, dass sich die Geiseln mit den Aktivisten solidarisiert haben und jederzeit die Siedlung verlassen können. Was jedoch als symbolische Konfrontation beabsichtigt war, die Aufmerksamkeit der Regierung auf die Situation ihrer Ureinwohner zu lenken, wird zu einem 71-tägigen bewaffneten Konflikt auf amerikanischem Boden – dem längsten seit dem Amerikanischen Bürgerkrieg – bei dem sich die "Besetzer" mit US-Marshals, FBI Agenten, US-Militärberatern und der Stammespolizei Feuergefechte liefern. Bestechend sinnfällig bezeichnet das Magazin Ramparts die Situation als die "New Indian Wars".

Schlagzeilen macht auch die Präsenz von William Kunstler, einem bekannten "New Left" Anwalt, zu dessen Klienten Martin Luther King, Malcolm X, Stokely Carmichael, Bobby Seale, und die "Chicago Seven" gehörten. Und auch der Symbolkraft eines Besuches von Ralph Abernathy, der 1968 nach der Ermordung von Martin Luther King den Vorsitz über die Southern Christian Leadership Conference (SCLC), eine der einflussreichsten schwarzen Bürgerrechtsorganisation der Sechziger Jahre, übernommen hatte, können sich die Medien nicht entziehen. In einer Rede vom 7. März schlägt er eine Brücke zwischen der afroamerikanischen und der indianischen Bürgerrechtsbewegung und erklärt: "[Wounded Knee] möge den Amerikanern bekunden, dass zwei große Völker, die getrennt in der Vergangenheit gelitten haben, gewillt sind, zusammen nach Gerechtigkeit in der Zukunft zu streben."

Die Konfrontation endet am 8. Mai unter Vermittlung des National Council of Churches (NCC) mit der Unterzeichnung eines Übereinkommens und der Aufgabe der Okkupanten. Das Weiße Haus sagt zu, den ernsten Vorwürfen gegen die Stammesverwaltung – Korruption und Verletzung der Bürgerrechte in mehreren Fällen – nachzugehen sowie den Fort Laramie-Vertrag von 1868, der den Sioux weite Teile North- und South Dakotas, Montanas Wyomings, und Nebraskas zugestanden hatte, erneut zu überprüfen.

Die Regierung kostete die Belagerung 7 Millionen Dollar in direkten und eine unschätzbare Summe indirekter Kosten. Von ihrem Ansinnen waren die Aktivisten jedoch nicht abgewichen. Im Gegenteil: sie hatten am 11. März die Independent Oglalla Nation ausgerufen, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen und ihr Recht auf Eigenständigkeit zu betonen. Und zum ersten Mal seit mehr als 80 Jahren feierten sie den Geistertanz wieder. Die Verkündung einer unabhängigen Nation und deren prompte Anerkennung durch den Irokesenbund, eine in dieser Form bereits seit dem 18. Jahrhundert bestehende Konföderation, entkräftete das Bestreben der Regierung, die Besetzung als die Tat aufrührerischer Außenseiter darzustellen.

Bereits in der ersten Woche seiner Besetzung erfuhr Wounded Knee eine höhere Medienaufmerksamkeit als der gesamte indianische Protest der vorhergehenden Dekade zusammengenommen. Die amerikanische Öffentlichkeit war über die schicksalhafte Bedeutung Wounded Knees in der Erinnerungskultur der indianischen Geschichte durch Dee Browns 1971 erschienen Bestseller "Bury My Heart at Wounded Knee" ("Begrabt mein Herz an der Biegung des Flusses") informiert. Time und Newsweek, die beiden führenden Nachrichtenmagazine des Landes, berichteten ausführlich über Wounded Knee II, stellten jedoch die Aufrichtigkeit der "Besetzer" früh in Frage. Newsweek bezeichnete die ganze Aktion als eine "Maus-die-brüllt-Konfrontation" und ein von AIM ins Leben gerufenes "Medienspektakel". Ganz Unrecht hatte die Zeitschrift dabei nicht. Die spektakuläre "Es-ist-ein-guter-Tag-zum-Sterben"-Taktik der "Besetzer", die nicht zuletzt auch darauf abzielte, die Medien für sich zu gewinnen, machte deren Berichterstattung zusehends reservierter. Einen Schritt zu weit trieben es die "Besetzer", als sie die Ausweisung von vier angeblichen Postbeamten und zwei weißen Ranchern mit vorgehaltener Waffe bildwirksam wiederholten, weil die Reporter beim ersten Mal die Szene nicht eingefangen hatten.

Am 26. März verhängte die Regierung ein Presseverbot, welches die Medien bis zum Ende der Okkupation von Wounded Knee fern hielt. "Sie vermissen die Presse mehr als ihr Essen", soll der Einsatzleiter der Polizeitruppen geäußert haben, "und ich will, dass sie etwas vermissen". Trotz der Nachrichtensperre blieb Wounded Knee jedoch in der öffentlichen politischen Debatte; zuletzt im April, als Marlon Brando seinen Oscar für "The Godfather" zurückwies, um gegen das, wie er sagte, entwürdigende Portrait der Indianer durch Hollywood zu protestieren.

Auch wenn die Medien der Besetzung skeptisch gegenüberstanden, so durchschauten sie rasch die Hintergründe der Aktion. "Wenn der Showdown bei Wounded Knee eher einem Guerillatheater als einem Guerillakrieg ähnelte", schrieb etwa Newsweek, "so waren doch die Probleme dahinter real genug." Native Americans sind auch heute noch die am stärksten benachteiligte Minorität in den USA. 1973 hat die Pine Ridge Reservation eine Bevölkerung von 13.000 und eine Arbeitslosenrate von 54 Prozent. Damit zählt es zu den ärmsten Countys der USA und kommt einem Entwicklungsland gleich.

Zahlreiche indianische Protestorganisationen waren Ende der Sechziger Jahre aus dem Boden geschossen, so auch das American Indian Movement, das 1968 in Minneapolis als Bürgerrechtsorganisation gegründet wurde. Bereits 1972 betrat AIM die nationale Bühne und entwickelte sich zum Hauptträger des pan-indianischen Protests. Wesentlich dazu beigetragen hatte die Tatsache, dass die Organisation die bislang in den Städten wohnende Indianer angesprochen hatte, nun auch auf einigen Reservationen Fuß fasste.

Die erste Gelegenheit dazu bot sich im Februar, als 1.300 Native Americans im 2.500-Seelen-Städtchen Gordon/Nebraska drei Tage lang das öffentliche Leben mit Boykotten und Demonstrationen lahm legten, um gegen den rassistisch motivierten Mord an einem Indianer und den Doppelstandard der Justiz zu demonstrieren. Der Protest, die bislang größte Demonstration von Native Americans im 20. Jahrhundert, ähnelte einer klassischen gewaltlosen Konfrontation der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den Südstaaten und bedeutete einen enormen symbolischen Sieg für AIM. Im November machte AIM erneut Schlagzeilen mit dem "Trail of Broken Treaties", einem transkontinentalen Protestzug von der West- zur Ostküste, und der anschließenden (ungeplanten) einwöchigen Besetzung des BIA in Washington. Bei dieser Besetzung zeichnete sich zum ersten Mal eine Gewaltstrategie ab, die AIM immer häufiger einzuschlagen begann. So Anfang Februar 1973, als bei einer Protestaktion gegen den Tod eines Indianers in Custer/South Dakota Straßenkämpfe zwischen Polizei und Aktivisten ausbrachen. Damit war das politische Klima zwischen Roten und Weißen in South Dakota stark angeheizt.

Die eigentliche Ursache für die Besetzung lag jedoch tiefer und hatte mit der Frage zu tun, wer die Oglalla nach innen und außen repräsentierte – die seit den 1930er Jahren gewählte Stammesregierung oder die traditionellen Führer des Stammes. Der Konflikt bei Wounded Knee ging auf die unvereinbaren Gegensätze zwischen den "Traditionalisten" und den "Progressiven" zurück; es handelte sich somit um eine innere Angelegenheit der Oglalla. Diese politische Konstellation spitzte sich in den Sechziger und Siebziger Jahren zu, als die radikalen "Neotraditionalisten", allen voran AIM, Unterstützung bei den Traditionalisten suchten.

Verschärft wurde dieser Gegensatz 1972, als Richard Wilson die Stammespräsidentschaft von Pine Ridge übernahm und im November AIM von der Reservation bannte. Er betrachtete AIM als kommunistisch unterwanderte Organisation (ein schwerer Irrtum, wie auch später das FBI feststellen musste) und ging gegen ihre Mitglieder gewaltsam mit seiner vom BIA finanzierten Polizeitruppe (Goon Squad) vor. Wilson nahm immer gravierende Einschränkungen der Grundrechte vor. So wurden beispielsweise Versammlungen von mehr als fünf Personen untersagt, und schon bald übten die Goons den Berichten der Medien zufolge ein Terrorregime aus. Weitere Beschwerden gegen Wilson schlossen Nepotismus, Verschwendung von Stammesgeldern, Bruch der Stammesverfassung durch Unterlassung der satzungsgemäßen Einberufung des Stammesrates, und widerrechtlicher Arrest eines Stammesratsmitglieds ein. Als Russel Means erklärte, er werde gegen Wilson kandidieren, erließ Wilson eine einstweilige Verfügung, die es ihm untersagte, auf der Reservation bei öffentlichen Versammlungen zu sprechen.

Auf Pine Ridge versuchte die Opposition, die sich als Oglalla Sioux Civil Rights Organization (OSCRO) formiert hatte, Wilson am 24. Februar 1973 auf demokratische Weise abzusetzen. Der bereits angenommene Misstrauensantrag scheiterte jedoch. Wilson selbst führte den Vorsitz über den Impeachment-Ausschuss und verlangte ein sofortiges Verfahren, ohne dass die für ein Impeachment-Verfahren vorgeschriebene Frist von 20 Tagen zur Vorbereitung der Anklage bzw. Verteidigung eingehalten wurde. Die Ankläger waren nicht vorbereitet und mussten zurücktreten. Die austaktierte Opposition fasste in dieser Situation den Entschluss, AIM zu Hilfe zu holen und Wounded Knee zu besetzen, um auf die Probleme von Pine Ridge aufmerksam zu machen. Am 1. März konnte die amerikanische Bevölkerung die Schlagzeilen über Wounded Knee lesen. Der Rest ist Geschichte.

Nach der Besetzung eskalierten die katastrophalen Verhältnisse auf Pine Ridge in einen kleinen Bürgerkrieg und besserten sich erst mit Wilsons Abwahl 1976. Die AIM-Führer wurden wegen der Okkupation vor Gericht gestellt, jedoch nach einem einjährigen Prozess freigesprochen. Ein Senatsausschuss im Juni 1973 zur Untersuchung der Okkupation brachte keine neuen Erkenntnisse zu Tage. Bei der im Mai 1973 zwischen dem Weißen Haus und den traditionellen Häuptlingen anberaumten Konferenz wichen die Unterhändler der Forderung nach einer Überprüfung der Verträge aus. Erst 1980 bekamen die Sioux vom Obersten Gerichtshof eine Summe von 122 Millionen Dollar als Entschädigung für die Black Hills zugesprochen, was diese jedoch einstimmig ablehnten. Ein neuer Trend, weg von Protestaktionen und hin zu Rechtsprozessen, zeichnete sich 1974 mit der Gründung des International Indian Treaty Council ab, das den Souveränitätsanspruch indigener Völker auf nationalen und internationalen Foren wie beispielsweise der UNO vertritt.

Wounded Knee II markierte eine historische Wasserscheide, die die gesamten US-indianischen Beziehungen in Frage stellte. "Ihr habt dramatisiert, was der weiße Mann nicht erinnern wollte", hatte Abernathy während der Besetzung gesagt. "Wounded Knee wird als der Ort in Erinnerung bleiben, an dem die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika gezwungen war, seiner Verantwortung ins Gesicht zu sehen und den vor langer Zeit unterzeichneten Verträgen gerecht zu werden.

Knapp dreißig Jahre später hat sich wenig an der wirtschaftlichen Situation auf Pine Ridge verändert. "Die Lakota haben jeden nur erdenklichen Umstand in den letzten 500 Jahren ausgehalten, aber immer überlebt. Als Lakota hat man die Verantwortung, die traditionellen Wege weiterzuführen", so Elmar Bear Eagle, ein Wounded Knee II-Veteran. "Wounded Knee war nur eine Phase, ein Teil des andauernden Kampfes.

Weiterführende Links

http://www.aimovement.org/

http://www.dickshovel.com/AIMIntro.html#Interviews

 

http://www.indiancountry.com/

 

http://www.bgsu.edu/departments/acs/1890s/woundedknee/WKIntro.html

 

http://www.aics.org/WK/

 

http://www.msnbc.com/Onair/msnbc/TimeAndAgain/archive/wknee/1973.asp