22.04.2005

Assyrer

Christliche Minderheit im Nahen Osten

Das Volk der christlichen Assyrer lebt gegenwärtig in den Nahoststaaten Irak, Iran, Syrien, Türkei, Libanon sowie in westlichen Ländern und in Übersee. Die Assyrer sind die Nachfahren der Christen des Vorderen Orients, die seit dem 3. Jahrhundert im Gegensatz zu der byzantinischen Reichskirche selbständige (autokephale) Kirchen gründeten und nicht das Griechische, sondern das Syrische (s.u.) als Liturgie- und Theologiesprache verwendeten. Sie selbst führen ihre Existenz auf die altorientalischen Völkerschaften der Assyrer, Babylonier und Aramäer zurück, die seit der 2. Hälfte des 3. Jahrtausends v. Chr. in Syrien und Mesopotamien ansässig wurden.

Das römische Reich, die Herrschaft der neupersischen Sasaniden, Byzanz, das arabische islamische Kalifat, die Mongolenstürme und die Herrschaft der Osmanen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts prägten die Bewohner der wechselnden Staatsgebilde. Eine Minderheit der Christen des Vorderen Orients überstand die Einschmelzung in den Islam und bildete bis zum Ersten Weltkrieg eine kleine Sprach- und Religionsgemeinschaft in einem geschlossenen Siedlungsgebiet Obermesopotamiens.

Fünf Konfessionen

Die Assyrer bekennen sich zu zwei selbständigen (autokephalen) syrischen Kirchen: zu der schon im 3. Jahrhundert entstandenen Alten Apostolischen Kirche des Ostens und zu der im 5. Jahrhunderts entstandenen Kirche von Antiochia und dem Gesamten Osten. In den folgenden Jahrhunderten spalteten sich die mit Rom unierte Chaldäische Kirche, die ebenfalls mit Rom unierte Syrisch-Katholische Kirche und die evangelische Kirche von den beiden ursprünglichen Kirchen ab. So entstanden insgesamt fünf Konfessionen.

Die heutigen Assyrer sprechen Spätformen des Aramäischen, einer zur semitischen Sprachfamilie gehörenden Kultursprache, die seit dem 1. Jahrtausend v. Chr. die älteren Sprachen in Mesopotamien, Syrien und Palästina verdrängte. Die von den Christen verwandte Form des Aramäischen wird als Syrisch bezeichnet. Die altsyrische Hochsprache der Christen des Vorderen Orients formte sich seit dem 3. Jahrhundert und blieb bis zur Gegenwart in zwei Dialekten (Ostsyrisch und Westsyrisch) Liturgie- und Theologiesprache der alten syrischen Kirchen. Parallel dazu entwickelten sich neuaramäische bzw. neusyrische Volksdialekte, z.B. das Westneusyrische oder Turoyo, das im Tur Abdin zur Volkssprache der meisten dort wohnenden Christen wurde. Außerdem entstand der Urmia-Dialekt, der zur Schriftsprache entwickelt wurde und von den meisten ostassyrischen Gemeinden verwendet wird.

Siedlungsgebiet: Mesopotamien

 

Das ursprüngliche Siedlungsgebiet der Assyrer liegt großenteils im mesopotamischen Raum, vor allem in Obermesopotamien und im armeno-kurdischen Bergland (heutige Staaten Irak, Syrien und Türkei). Nach Osten dehnt es sich auf iranisches Territorium bis in die Hochebene am Urmia-See aus. Bis 1915 lebten rund eine Million Assyrer in einem Dreieck, das sich nach jeder Seite etwa 300 km ausdehnt. Westlichster Ausläufer ist das Bergland des Tur Abdin (westlich davon die Städte Mardin und Diyarbakir) in der Südosttuerkei. Nach Süden und Südosten wird das Gebiet durch Siedlungen in der nordsyrischen Ebene nahe der türkischen Grenze und in der Mosul-Ebene begrenzt, im Nordosten durch das Hakkari-Gebirge (Osttürkei, ehemaliges Hauptsiedlungsgebiet der Angehörigen der Alten Apostolischen Kirche des Ostens).

Die assyrische Nationalbewegung

Mit dem Aufkommen des modernen Nationalgedankens im Europa des 19. Jahrhunderts und seiner Verbreitung in Asien und Afrika kam es Anfang des 20. Jahrhunderts auch unter den Christen der syrischen Kirchen zu einer nationalen Bewegung und Sammlung. Große Teile der syrischen Christen bezeichnen sich heute als Assyrer, ungeachtet ihrer Zugehörigkeit zu den verschiedenen Konfessionen. Sie einigt die gemeinsame christliche Religion mit allen ihren in Jahrhunderten gewachsenen Traditionen, Gebräuchen, Lebenseinstellungen und kulturellen Gewohnheiten sowie das gemeinsame Siedlungsgebiet, ihre Geschichte und ihre Sprachen (die aramäische Schriftsprache und die beiden davon abgeleiteten Sprachrichtungen West- und Ostaramäisch bzw. West- und Ostassyrisch).

Assyrer im 20. Jahrhundert

Während des Ersten Weltkrieges waren nicht nur die christlichen Armenier, sondern auch die Angehörigen der syrischen Kirchen Opfer grausamer Verfolgung und Vertreibung. Die Assyrer verloren in den nördlichsten Gebieten Obermesopotamiens und im Iran über 50 Prozent ihrer Gesamtbevölkerung. Bis auf spärliche Reste wurden sie aus ihren alten Siedlungsgebieten vertrieben und mußten unter schwierigsten Bedingungen jahrelang in Lagern zubringen, die unter Aufsicht des Völkerbundes standen. Bei der Gründung der jungen Nationalstaaten Irak, Syrien und der modernen Türkei wurde das Verlangen der Assyrer nach Selbstbestimmung und Autonomie nicht berücksichtigt. Trotz internationaler Versprechungen konnten sie nicht in ihre alten Wohngebiete zurückkehren. Mit dem Vertrag von Lausanne 1923, der endgültigen Grenzziehung und der Regelung der sogenannten Mosul-Frage im Jahre 1925 war ihr Schicksal besiegelt: Es blieb ihnen keine andere Wahl, als zu den Angehörigen ihres Volkes in den verschiedenen neuen Staaten des Nahen Ostens zu fliehen.

In einigen Staaten des Nahen Ostens wurde ihnen der Status einer anerkannten nationalen oder religiösen Minderheit mit daraus folgenden kulturellen Rechten verweigert. Der Irak und die Türkei verbieten die Volksbezeichnung Assyrer und versuchen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, nicht nur die Nationalbewegung der Assyrer, sondern auch das Glaubensleben der christlichen Konfessionen zu unterdrücken. Ähnlich ist es im Iran, auch wenn dort die Bezeichnung Assyrer nicht verboten ist. Mit der Machtübernahme der Ayatollahs 1979 begann dort eine Phase der Intoleranz und Verfolgung der nicht-muslimischen Religionsangehörigen. Die feindselige Haltung der erstarkten muslimischen Bewegung bewirkte eine Massenauswanderung der Assyrer aus dem Iran. Insgesamt stellen die letzten zwanzig Jahre für die Assyrer im Nahen Osten einen der grausamsten Abschnitte ihrer Geschichte nach den Genozid-Verbrechen von 1914 bis 1922 dar.

Türkei: Assyrer zwischen den Fronten

In der Türkei geraten die Assyrer seit 1984 zunehmend zwischen die Fronten des erbittert geführten Krieges des türkischen Militärs gegen die Anhänger der radikalen kurdischen Arbeiterpartei (PKK). Assyrer werden sowohl von der PKK als auch von den türkischen Regierungstruppen, von Spezialeinheiten und der Polizei sowie von islamisch-fundamentalistischen Kräften und von kurdischen Agas in unterschiedlicher Intensität bedrängt und unter Druck gesetzt. Von den Anti-Terror-Einheiten des türkischen Militärs wird ihnen immer wieder die Kooperation mit dem kurdischen Widerstand vorgeworfen. Von der PKK werden sie andererseits verdächtigt, mit den türkischen Unterdrückern zu kollaborieren. Immer wieder kommt es zu Anschlägen auf assyrische Familien. 1993 beispielsweise wurden Assyrer aus ihren Dörfern verschleppt, Kleinbusse mit assyrischen und yezidischen Passagieren angegriffen und ein assyrisches Dorf geräumt. Unter solch ständiger Bedrohung verließen in den letzten zehn Jahren mehrere Zehntausend Assyrer ihre türkische Heimat. Heute leben nur noch höchstens 12.000 Assyrer in der Türkei, etwa 500 Familien im Tur Abdin und wenige Tausend in Istanbul.

Eine neue Heimat im Exil

Etwa 35.000 Assyrer haben in der Bundesrepublik eine neue Heimat gefunden. Viele leben hier als ausländische Arbeitnehmer, andere als Flüchtlinge mit einem langfristigen Bleiberecht. Grundlage dafür ist der sogenannte Christenerlaß, der als Einreisestichtag den 31. Dezember 1989 festlegt. Inzwischen erkennen auch die meisten Gerichte eine religiöse Gruppenverfolgung an. Einige gehen jedoch von einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Istanbul aus. Die Istanbuler assyrischen Gemeinden sind aber hoffnungslos überfordert mit der Unterstützung und Versorgung aller Flüchtlinge aus dem Tur Abdin: Überfüllte Wohnungen und verbreitete Arbeitslosigkeit führen zu massiven Existenzproblemen.

Verfolgung der Assyrer im Irak

Im Irak bilden die Assyrer mit mehr als einer Million Menschen nach den Arabern und Kurden die drittstärkste Bevölkerungsgruppe. Nach dem Machtantritt der Baath-Partei unter Saddam Hussein (1968) begann für sie eine besondere Leidenszeit: Immer wieder wurden größere Gruppen verhaftet, wurden Menschen hingerichtet. Zahlreiche assyrische Intellektuelle "verschwanden" - über ihr Schicksal herrscht zum Teil bis heute Ungewißheit. Systematisch wurden unter Saddam Hussein etwa 200 assyrische Dörfer von der Armee zerstört. 150 Kirchen und Klöster wurden dem Erdboden gleichgemacht. Viele Assyrer wurden, wie die Kurden, in sog. "Modelldörfer" deportiert, die Internierungslagern gleichen.

Schon der erste Golfkrieg zwischen dem Iran und dem Irak forderte etliche Menschenleben in der männlichen assyrischen Bevölkerung. Etwa 40.000 Assyrer wurden Opfer von Genozid. Zu ihnen gehören auch 2.000 assyrische Opfer der Giftgasangriffe, die das Saddam-Regime 1988 gegen Siedlungen und Städte der Kurden und Assyrer im Nordirak (Halabdja) durchführte. Unter den Flüchtlingen aus dem Nordirak, die im Frühjahr 1991 nach dem 2. Golfkrieg in die Nachbarstaaten Türkei und Iran flohen, befanden sich auch Zehntausende Assyrer. Nachdem die Allliierten nördlich des 36. Breitengrades im Nordirak eine Schutzzone eingerichtet hatten, entschloß sich die Mehrzahl dieser Flüchtlinge, in ihre zerstörten Dörfer zurückzukehren. Unter dem Schutz der Alliierten konnte sich Irakisch-Kurdistan zu einem autonomen, selbstverwalteten Föderalstaat entwickeln, in dem Kurden und Assyrer gleichberechtigt zusammenleben könnten. Doch der Konflikt zwischen den beiden großen Kurdenparteien, die Besetzung assyrischer Dörfer durch Kurden und Anschläge auf assyrische Politiker haben viel von diesen Hoffnungen zunichte gemacht.Ohnehin schwebt die Bedrohung durch das Baath-Regime Saddam Husseins wie ein Damoklesschwert über dem Nordirak, dessen Wohl und Wehe nach wie vor von der Existenz der Alliierten Schutzzone abhängig ist.

Fachliche Beratung: Prof. Dr. Dr. Gernot Wiessner