17.12.2015

Aufruf an alle Sozialdemokraten: Beendet die Deportation von langjährig geduldeten Flüchtlingen ins Ungewisse!

Offener Brief des GfbV-Generalsekretärs Tilman Zülch an die SPD

Tilman Zülch während einer Demonstration in Göttingen im Dezember 2015, bei der Aktivisten ein Bleiberecht für langjährig geduldete Flüchtlingskinder forderten. © Jan Klauke für GfbV

Sehr geehrter Herr Vizekanzler Gabriel,

sehr geehrte Damen und Herren Ministerpräsidenten,

sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Köhler,

sehr geehrte Damen und Herren,

erschüttert von der gnadenlose Abschiebepolitik Niedersachsens wende ich mich im Namen der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) an Sie. Wir sind entsetzt, wie kaltherzig Sie und Ihre Behörden über Schicksale von Menschen entscheiden, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. Wir können es kaum glauben, dass Sie sich, sehr geehrter Herr Innenminister Pistorius, bedauernd auf die neue Rechtslage berufen, um Ihre traumatisierende Politik zu rechtfertigen, und Kinder gewaltsam aus ihrem Zuhause reißen, nur weil ihre Eltern den „falschen“ Pass haben. Wir sind sicher: Das würden Sie nicht tun, wenn es jüdische Kinder wären, deren Eltern aus dem Ausland zu uns gekommen wären.

Die Bundesregierung, deren Politik von der SPD mitgestaltet wird, hat die Grenzen für bisher mindestens eine Million Flüchtlinge geöffnet. Noch immer werden täglich Hunderte von Neuankömmlingen registriert. In der Öffentlichkeit wachsen Unmut und Ablehnung gegen diese Politik. Wollen Sie nun mit den unbarmherzigen Abschiebungen von Tausenden, seit vielen Jahren hier ansässigen Kindern, Jugendlichen und Alten ein Exempel statuieren und die Gemüter beruhigen? Wir halten es für extrem unfair, jetzt diese deutschsprachigen Kinder und Jugendlichen dafür büßen zu lassen und sie in Länder zu deportieren, die für sie nie eine Heimat waren und auch nicht sein können. Ihr Vorgehen ist politische Augenwischerei zur Beruhigung der Öffentlichkeit: Wenn Sie in den kommenden Wochen 10.000 Kinder deportierten, so entspricht das der Anzahl der Flüchtlinge, die innerhalb von drei Tagen neu zu uns gekommen sind. Die Zahl der Abgeschobenen ist also eine zu vernachlässigende Größe und kein Beitrag zur Lösung des gesamten Flüchtlingsproblems.

Wir rufen alle Sozialdemokraten, die in ihrem Herzen und Handeln der Humanität verpflichtet geblieben sind, dazu auf, sich gegen die Deportationspolitik ihrer Landesregierung zu stellen. Am Mittwoch wurden junge Menschen in Handschellen, Alte und Gebrechliche und ganze Familien, die schon seit Jahrzehnten oder sogar einem Vierteljahrhundert in Deutschland lebten, außer Landes geschafft. Das ist unmenschlich und verantwortungslos! Wir schämen uns dafür, denn all das erinnert an die Politik totalitärer Staaten, an nazistische und stalinistische Deportationen.

Wir erinnern daran, dass die SPD-geführte Bundesregierung unter Gerhard Schröder 1999 gemeinsam mit anderen europäischen Ländern die Massaker serbischer Truppen an 10.000 Albanern im Kosovo durch eine militärische Intervention beendet hat. Doch die Roma-Minderheit, die dann unter den Augen der dort stationierten Nato-Truppen – auch deutscher Soldaten! – von albanischen Nationalisten mit Gewalt nahezu kollektiv aus dem Land gejagt wurden, wurde nicht beschützt. 70 von 75 ihrer Dörfer und Stadtteile wurden mutwillig geplündert und zerstört. Auch unsere Nato-Soldaten haben das nicht verhindert, obwohl der Unterzeichner die Bundeswehr vor Ort während dieser Zeit darum gebeten hat. Viele Roma suchten bei uns Zuflucht. Deutschland ist für ihr Schicksal mitverantwortlich und darf sich dieser Flüchtlinge nicht „einfach so“ entledigen!

Wir appellieren an Sie: Geben Sie den hier geborenen und aufgewachsenen Flüchtlingskindern, den Familien, die hier seit vielen Jahren leben durften, ein dauerhaftes Bleiberecht. Ein Leben in dauernder Unsicherheit und in der ständigen Drohung, das Zuhause zu verlieren, lässt die Menschen verzweifeln und nimmt ihnen das Vertrauen in Staat und Gesellschaft. Bitte lassen Sie das nicht länger zu!

Unsere Menschenrechtsorganisation hat 1979-1981 - unterstützt von Simon Wiesenthal, von der damaligen Präsidentin des Europäischen Parlaments, Simone Veil, dem damaligen Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, und Indira Gandhi - das andauernde Elend der deutschen Sinti beendet. Wir haben die Eigennamen Sinti und Roma, die Wiedereinbürgerung hunderter deutscher Sinti, die Anerkennung des Völkermords durch die Bundesrepublik und eine Wiedergutmachungsregelung durchgesetzt. Indem Sie Tausende von Kindern aus dem Land jagen, stellen Sie das wieder in Frage!

Was es bedeutet, vertrieben zu werden, hat der Unterzeichner als Kind am eigenen Leib erfahren müssen. Viele Deutsche teilen sein Schicksal. Vor diesem Hintergrund erwarten wir gerade auch von Sozialdemokraten Solidarität auch für diese Flüchtlinge.

Mit freundlichen Grüßen

Tilman Zülch

Gfbv-Generalsekretär

 

 „Ich halte die Gesellschaft für bedrohte Völker für sehr wichtig. Am Ende des 20. Jahrhunderts, wo Tausende Menschen durch Nationalismus und Chauvinismus bedroht sind, wo Tod und Hunger Tausende vernichten, drängen Ihre Aktivitäten die Öffentlichkeit, aktiv zu werden  und Ungerechtigkeit zu bekämpfen. Deshalb meine ich, dass jeder die Verpflichtung hat, Ihre Tätigkeit moralisch und auch finanziell zu unterstützen."

Marek Edelman, letzter überlebender Kommandeur des jüdischen Widerstands im Warschauer Ghetto, Lodz (1919-2009)

 

„Menschenrechtsorganisationen wie die Gesellschaft für bedrohte Völker“ sind der starke Arm des Weltgewissens, die ersten Elemente einer weltweit geübten Gerechtigkeit, wozu kein Staat, seiner Definition nach, die Möglichkeit hat.“

Yehudi Menuhin, Violinvirtuose, in seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1979

 

„Die Gesellschaft für bedrohte Völker ist ein Lichtblick und ein Zeichen der Hoffnung in einer Zeit, in der in Europa und auf den anderen Kontinenten Völker, Minderheiten oder Flüchtlinge in ihrer Existenz bedroht sind."

Simon Wiesenthal

 

„Der Menschenrechtsfrage gebührt der Rang einer hohen politischen Aufgabe. Gelegentliche Proteste gegen Unrechtssysteme reichen nicht aus. Es ist beispielsweise von großer Bedeutung, dass Organisationen wie `Amnesty International `oder  die `Gesellschaft für bedrohte Völker` Gehör finden; dass sich engagierte Mitbürger für dieses und ähnliche Bemühungen öffentlich einsetzten, ohne Furcht vor Einschüchterungen oder Nachteilen – auch bei uns in der Bundesrepublik.“

Willy Brandt (1913-1992), ehem. Bundeskanzler