04.02.2010

Die Aleviten in der Türkei

Aus pogrom_bedrohte Völker, 249-250, 2008

Das Alevitentum ist eine liberal-islamische Glaubensgemeinschaft. Sie gilt als die zweitstärkste islamische Konfession. Von den etwa 68 Millionen Einwohnern der Türkei bezeichnen sich über 20 Millionen Menschen türkischer, turkmenischer, kurdischer und arabischer Herkunft als Aleviten. Der Begriff "Alevit" stammt von dem Namen "Ali" und bedeutet soviel wie "Ali-Anhänger". Die Bezeichnung "Alevit" wird auch als Sammelbegriff für die religiösen Untergruppen wie Kizilbas-Aleviten, Bektasi-Aleviten, Tahtaci-Aleviten und weitere Gruppen benutzt.

Die traditionellen Siedlungsgebiete der türkischen Aleviten liegen in Zentralanatolien in den Provinzen Sivas, Amasya, Corum, Tokat und Yozgat. Turkmenische Aleviten leben überwiegend in den südlichen und westlichen Gebieten der Türkei. Kurdische Aleviten bewohnen hauptsächlich Orte in Ost- und Südanatolien, arabische Aleviten die Orte Hatay und Adana. Als Folge der Industrialisierung und Urbanisierung wanderten viele Aleviten in den 1960er Jahren sowie verstärkt nach 1980 in Großstädte wie Istanbul, Ankara, Izmir, Izmit, Adana, Mersin und Gaziantep ab. Heute lebt ein Großteil der Aleviten in den Industriegebieten der Türkei.

Die alevitische Religion

Die alevitische Religion in der Türkei hat verschiedene Aspekte bzw. religiöse Strömungen.

Der Mazdaismus beispielsweise ist die des alt-iranischen Priesters Zarathustra gestiftete Religion. Seine Lehre betont den Dualismus zwischen Gut und Böse, wobei der endgültige Sieg des Guten über das Böse jedoch nie in Frage gestellt wird. Dem Schöpfer Ahura Mazda als Verkörperung des Guten steht der verlogene und zerstörerische Ahriman gegenüber. Der Mensch ist in der Lage, das Böse zu überwinden und sich dem Guten, Wahren und Schönen zu widmen.

Der Schamanismus dagegen ist ein vorislamischer Volksglaube der Türken, der sich dem Gott des Himmels und der Macht der Natur widmet. Die Priester waren die religiösen Oberhäupter, Zauberer, Heilpraktiker und Verbreiter einer reichen Volksliteratur. Von Zeit zu Zeit spielten sie auch eine politische Rolle, so z.B. im 13. Jahrhundert bei der Babai-Revolte (1239-1240), einer religiös-politisch motivierten Revolte.

Im 8. und 9. Jahrhundert entwickelte sich eine neue Frömmigkeit, die islamische Mystik. Sie war dadurch charakterisiert, dass die Gläubigen durch mystische Praktiken und vorbildliches Leben den unmittelbaren Weg zu Gott suchten. Die bekannten islamischen Mystiker wie Hasan al-Basri (†728), Rabia von Basra (†801), Bayezid Bistami (†874), al-Dschunaid (†910) und al-Halladsch (†922) entwickelten die islamische Mystik, durch die das Alevitentum stark beeinflusst wurde.

Haci Bektas Veli (1209-1295) gilt als Begründer des anatolischen Alevitentums. Er stammt aus Nischabur bei Chorasan, das im heutigen Iran liegt. Dort kam er in seiner Jugend mit der islamischen Mystik in Berührung. Haci Bektas war am Babai- Aufstand beteiligt und entkam dem Massaker nach der Niederlage in Amasya (1240). Er floh nach Karacahöyük, dem heutigen Wallfahrtsort Hacibektas. Dort fand er Anhänger und baute seine Lehre systematisch auf. Ein Kloster wurde gebaut und zahlreiche Schüler kamen zu ihm, um bei ihm zu lernen. Wanderderwische (Wandermönche) und wandernde Prediger trugen seine Lehre in viele Dörfer und Städte weiter.

Die Herausbildung des heutigen Alevitentums wurde auch durch die Lehren des sufistischen Ordens der Safaviden im persischen Ardabil am Kaspischen Meer stark beeinflusst, die bis zum Anfang des 15. Jahrhunderts zurückreichen. Der Gründer dieses Sufi-Ordens, Safiy ad-Din, führte seine Abstammung auf den 7. Imam Musa Kazim und somit auf Ali zurück.

Die Lage der Aleviten in der Türkei

Das Massaker von Sivas am 2. Juli 1993 (ein von radikalen Sunniten verübter Brandanschlag in der türkischen Stadt Sivas, der sich gegen liberale Schriftsteller, Dichter und Musiker richtete), bei dem 37 Menschen ums Leben kamen, war für die Aleviten ein traumatisches Ereignis, das das Vertrauen der Aleviten in den türkischen Staat erschütterte.

Bis vor kurzem bestritten die offiziellen Stellen in der Türkei die Existenz der 20 Millionen Aleviten. Die gesamte Bevölkerung wurde als türkisch und islamisch bezeichnet. Dabei wurde unter "islamisch" einzig und allein die sunnitische Glaubensrichtung verstanden.

Nach der Gründung der Republik Türkei (29. Oktober 1923) wurde trotz ihrer anti-religiösen Grundverfassung und der damit einhergehenden konsequenten Trennung von Kirche und Staat das Amt für religiöse Angelegenheiten eingerichtet, das bis heute nur Bedienstete sunnitischen Glaubens einstellt und 90.000 Moscheen unterhält. Aleviten sind hier nicht vertreten und erhalten auch keine finanzielle Unterstützung.

"Da die Existenz der Aleviten verleugnet wird, erkennt der Staat weder Gebetsstätten (cem evi) noch Gelehrte (dede) der Aleviten an. Der türkische Ministerpräsident Erdogan bezeichnete im Herbst 2003 den alevitschen Gottesdienst "cem" lediglich als Element der vergangenheitsorientierten Kultur. Er lehnt das alevitische "cem evi" als Gebetshaus ab." (Kaplan 2004, S. 23)

Prediger- und Koranschulen haben mittlerweile wieder einen besonderen Platz im türkischen Bildungssystem. Die Regierung Erdogan machte im Herbst 2003 die Abschaffung der dreijährigen Sekundarstufe der Predigerschulen rückgängig, die durch die Schulreform im Jahre 1998 beschlossen wurde. So werden jährlich etwa 400.000 Schüler in Predigerschulen und rund 450.000 Schüler in Koranschulen sunnitisch-islamisch ausgebildet.

Seit dem Militärputsch von 1980 werden insbesondere in alevitischen Dörfern Moscheen gebaut und sunnitische Vorbeter dorthin entsandt. Sie predigen im alltäglichen Gebet und im Beerdigungsgebet sunnitisch, obwohl sich das alevitische Gebet vom sunnitischen sowohl praktisch - Männer und Frauen beten beispielsweise gemeinsam - als auch inhaltlich sehr unterscheidet. Zwar beten Aleviten nicht in diesen Moscheen, die sunnitischen Vorbeter fungieren jedoch als Kontrolleure des alevitischen Religionslebens.

Religionsunterricht ist in der Türkei seit der Verabschiedung des Grundgesetzes im Jahr 1982 unter der Militärherrschaft Pflichtfach an Schulen. An diesem Unterricht müssen auch alevitische Kinder teilnehmen, was für sie eine Zwangsunterrichtung der sunnitischen Lehre und eine Missachtung ihrer Glaubensfreiheit bedeutet. Dies beanstandete auch die Europäische Union in ihrem regelmäßigen Bericht über die Fortschritte der Türkei auf dem Weg zum Beitritt in die EU. So hieß es in diesem Bericht: "Die Aleviten werden als Religionsgemeinschaft offiziell nicht anerkannt und stoßen bei der Eröffnung von Gebetsstätten oft auf Schwierigkeiten. Der religiöse Pflichtunterricht in den Schulen erkennt nichtsunnitische Bekenntnisse nicht an. Die Eltern eines alevitischen Kindes haben im Hinblick auf den obligatorischen Religionsunterricht ein Verfahren vor dem EGMR, [Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, d. Red.] angestrebt. Die meisten Aleviten fordern, dass die Türkei als säkularer Staat alle Religionen gleich behandelt und keine bestimmte Religion (die Sunniten) direkt unterstützt, wie das gegenwärtig in der Diyanet [dem Dachverband der türkisch-islamischen Religionsvereine in Deutschland, d. Red.] geschieht."

Mit dem Ziel das Land ethnisch und religiös zu vereinheitlichen, betreibt der türkische Staat eine Assimilation und Sunnitisierung der Aleviten, gemäß der Formel "Wir sind alle Muslime – Hepimiz müsülman?z".

 

[Quellen]

Das Alevitentum: Eine Glaubens- und Lebensgemeinschaft in Deutschland, Alevitische Gemeinde Deutschland, Ismail Kaplan.

Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2004: Regelmäßiger Bericht über die Fortschritte der Türkei auf dem Weg zum Beitritt, S. 45f.