15.11.2006

Ein Massenmörder vor Gericht

Irak/Kurdistan

aus: bedrohte völker_pogrom 238, 4/2006
Ein Prozess gegen Iraks Ex-Diktator Saddam Hussein arbeitet nach 35 Jahren Genozid und Kriegsverbrechen die so genannte Operation "Anfal" auf. Sie war aber nur ein Teil des Völkermordverbrechens. Zum Auftakt des neuen Prozesses des Sondertribunals in Bagdad gegen Saddam Hussein erinnerte die GfbV daran, dass der Völkermord an den Kurden einschließlich der mit ihnen lebenden kurdischen Yeziden, christlichen Assyro-Chaldäern und Turkmenen, 1968 von Saddam Hussein begonnen wurde und mit immer neuen Verbrechen bis zu seiner Entmachtung 2003 andauerte. Im Nord-Irak sind in den 35 Jahren der Herrschaft Saddam Husseins schätzungsweise bis zu 500.000 Menschen umgekommen.

Die Anfal-Offensive

Verhandelt wird in Bagdad die so genannte "Anfal-Offensive" (März 1987 bis September 1988), das Verbrechen an den irakischen Kurden mit den höchsten Opferzahlen. Die Giftgasangriffe auf kurdische Dörfer und auf die Stadt Halabja wurden von Massendeportationen, der Zerstörung von 4.000 Dörfern und von Massenerschießungen begleitet. Nach heutigen Schätzungen seriöser kurdischer Institutionen im Nord-Irak sollen während dieser "Offensive" und an deren Folgen 182.000 Menschen ums Leben gekommen sein.

Mit Saddam Hussein angeklagt ist u.a. auch Ali Hassan Majid, der Organisator der Operation "Anfal", der seither auch "Chemie-Ali" genannt wird. Im März 1987 wurde "Chemi-Ali" Generalsekretär des Büros der Baath-Partei in Nordirak. Unmittelbar danach begann der Vernichtungsfeldzug des Regimes gegen die kurdische Zivilbevölkerung. "Chemie-Ali" wurde 1990 nach der irakischen Eroberung Kuwaits Gouverneur und war danach für unzählige Morde an Kuwaitis verantwortlich.

Unter dem Kodenamen "Anfal" hat die irakische Armee seit dem April 1987 bis 1988 mehr als vierzig Giftgasangriffe auf kurdische Ortschaften durchgeführt. Die irakische Armee erhielt Anweisungen, die Kurden in ausgewählten Teilen der Provinzen Arbil, Dohuk, Suleymania, Kirkuk und Mosul zu deportieren oder zu eliminieren. Alle Person zwischen 14 und 70 Jahren, die in den für verboten erklärten Zonen aufgegriffen wurden, sollten umgehend getötet werden.

Deutschsprachige Medien hatten bereits im Frühjahr 1987 Berichte der GfbV über Giftgasangriffe auf kurdische und assyro-chaldäische Dörfer publiziert. Erst der Giftgas-Angriff auf die kurdische Stadt Halabja führte zu weltweiter Aufmerksamkeit. Allein in dieser Stadt der Provinz Suleymania starben bei dem Bombardement 5.000 Kinder, Frauen und Männer. In Deutschland protestierten zur gleichen Zeit Friedens- und Umweltbewegte gegen Chemiewaffen, allerdings gegen jene der Amerikaner in der Pfalz, die erfreulicherweise nicht eingesetzt wurden, während die Dank deutscher Firmen aufgebauten Giftgaswaffensysteme zwei Jahre lang zur Vernichtung der Kurden eingesetzt wurden.

In der Regel verliefen die Operationen der Anfal-Offensive nach einem gleich bleibenden Muster: Zuerst Luftangriffe auf die Dörfer und anschließend Einmarsch der Infanterie, die meist Verletzte sowie Männer und Kinder ermordete und Frauen vergewaltigte. Die Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht, Gärten und Felder verbrannt. Zehntausende Jugendliche und Männer zwischen 14 und 50 Jahren wurden in Lager verschleppt, oft in Wüstenregionen abtransportiert und häufig getötet. Überlebende wurden in neu gebauten Massensiedlungen kaserniert. Sie durften diese Camps bis 1991, als sie von kurdischen Truppen befreit wurden, nicht verlassen. Die Zahl der so genannten Anfal-Frauen – Alleinstehende, Hinterbliebene, deren Männer, Söhne und Brüder, häufig sogar die gesamte Verwandtschaft getötet oder verschleppt und verschwunden sind –, wird heute auf rund 50.000 geschätzt.

Als kurdische Unterhändler 1991 in Bagdad die irakischen Gesprächspartner über den Verbleib der verschleppten Kurden befragten, antwortete Al-Majid: "Es können nicht mehr als 100.000 gewesen sein, die während Anfal-Operation getötet worden sind ..."

1960er und 1970er Jahre

Immer wieder hat die GfbV – wie auch andere Menschenrechtsorganisationen – über Pogrome und Massaker in jenen Jahren berichtet. Nur eines sei hier genannt: 55 Einwohner des assyro-chaldäischen Dorfes Sorija, zwischen Zakho und Dohuk gelegen, waren 1969 vor nahenden irakischen Truppen in eine Höhle geflüchtet. 38 von ihnen, Kinder, Frauen und Männer, verbrannten dort.

Nach dem Zusammenbruch der kurdischen Widerstandsbewegung unter Mustafa Barzani, und nach der Vermittlung eines in Algerien unterzeichneten Abkommens, das 1975 zwischen dem irakischen Regime und dem Schah von Persien durch den amerikanischen Außenminister Henry Kissinger vermittelt worden war, mussten 250.000 Kurden in den Iran flüchten. 500.000 Kurden wurden 1975-1978 aus ihren Dörfern vertrieben. 14.000 kurdische Widerstandskämpfer landeten in Konzentrationslagern. Man muss davon ausgehen, dass in dieser Zeit mehrere Zehntausend Kurden während der Flucht, Vertreibung oder Inhaftierung umgekommen sind.

Das Verschwinden der Faili-Kurden

1980 deportierte das Saddam-Hussein-Regime 10.000 junge männliche Faili-Kurden aus Bagdad sowie aus ihrer Heimatregion um die Städte Kanaquin und Mandali im südlichsten irakischen Kurden-Gebiet an der iranischen Grenze. Die Angehörigen dieser schiitischen Bevölkerung werden auf der iranischen Seite ihres Siedlungsgebiets auch als Kleinluren bezeichnet. Das Verbleiben dieser Deportierten ist bis heute unbekannt. Man geht davon aus, dass sie exekutiert wurden.

1983 trieben Regierungstruppen 8.000 Knaben und Männer des Barzani-Stammes aus der Barzan-Region, unter ihnen auch assyro-chaldäische Christen, zusammen und deportierten sie. Vom ihrem Schicksal erfuhr man lange nichts. Inzwischen wurden erste Massengräber gefunden; man geht davon aus, dass diese 8.000 Opfer in KZs im Süden des Irak exekutiert und in Massengräbern verscharrt wurden.

300 kurdische Kinder inhaftiert, gefoltert und ermordet

300 im Jahre 1985 inhaftierte kurdische Kinder und Jugendliche gelten als verschwunden. 1987 stellte amnesty international fest, dass viele der Jugendlichen geschlagen, sexuell missbraucht und mit Elektroschocks gefoltert worden seien.

 

1991: Aufstand und Massenflucht

Nach dem von US-Präsident George Bush sen. initiierten Kurden-Aufstand schlug die irakische Armee zurück und trieb bis zu zwei Millionen Kurden in die türkischen und iranischen Grenzgebiete. Die genaue Zahl der Menschen, die die Strapazen dieser Flucht in zum Teil 2000 m hohe schneebedeckte Bergregionen im März/April 1991 nicht überlebt haben, ist nicht bekannt. Sie könnte Zehntausende erreicht haben. So fanden damals Mitarbeiter der GfbV auf 2000m Höhe ein noch nicht von Hilfsorganisationen erreichtes Lager mit 50.000 Flüchtlingen. Niemand kennt die genaue Zahl der von den vorrückenden irakischen Truppen Ermordeten, der Verluste, der in die unwirtlichsten Gegenden Geflüchteten oder Vertriebenen. Auch hier wird es sich um Zehntausende Opfer gehandelt haben.