27.04.2005

Frankreichs Sprachminderheiten brauchen dringend Schutz

Sprachencharta jetzt ratifizieren

"Es ist ein erster Schritt, dass Frankreich nach jahrelangen Versprechungen und Ausflüchten unterschrieben hat", freut sich Anna Varie Chapalain über die Unterzeichnung der EU – Sprachencharta am 7. Mai 1999. Sie ist die bretonische Vorsitzende des französischen Komitees des EU - Büros für Sprachminderheiten (Europan Office for Lesser Used Languages), das seinen Sitz in Dublin/Irland hat. Ratifiziert, d. h. in die nationale Gesetzgebung überführt, ist die Charta damit noch lange nicht. Denn in Frankreich ist ein Verfassungsstreit entbrannt, der die Ratzifizierung der Charta auf nicht absehbare Zeit verzögert.

Die Sprachbewegung um Anna Varie Chapalain hat dennoch einen wichtigenEtappensieg in einer Auseinandersetzung gewonnen, die 1992 mit der Einführung des Artikels 2 in die Verfassung Frankreichs begann. Er schreibt in allen Bereichen des öffentlichen Lebens die Vorrangstellung des Französischen fest und erklärt Französisch als alleinige Amtssprache bei allen Ämtern und Behörden. Dieser Artikel sollte u. a. der Anglifizierung des Französischen entgegenwirken. Doch naturgemäß trifft er mit aller Konsequenz vor allem die Sprachminderheiten im eigenen Land. Mit den Mitteln der Bürgerrechtsbewegung kämpfen sie daher dafür, daß auch für sie die europäischen Maßstäbe des Minderheitenrechts für Sprachautonomie gelten. In der Bretagne traten Aktivisten in den Hungerstreik, in Bastia und Ajaccio auf Korsika und in Perpignan im französischen Katalonien wurden Präfekturen besetzt, in Lille und Toulose, die Bahnhöfe.

Auftrieb erhielten diese Proteste durch die 1996 veröffentlichte EU-Studie euromosaic. Sie räumte fünf von sieben in Frankreich gesprochenen Minderheitensprachen keine oder nur noch begrenzte Überlebenschancen ein. Der von Minderheitenorganisationen erhobene Vorwurf des Ethnozids wurde von der Studie der EU-Kommission wissenschaftlich bestätigt. Dies hatte letztlich zu Folge, dass Staatspräsident Jacques Chirac sich entschloss, die Charta der Regional- und Minderheitensprachen des Europarates zu unterzeichnen. 1997 lehnte der Verfassungsrat Frankreichs die Sprachencharta jedoch erstmals als verfassungswidrig ab.

 

Landesweit kam es erneut zu Demonstrationen der Minderheiten. Auf Korsika legten die Terroristen der FLNC erneut Bomben, die korsische Unabhängigkeitspartei "Partitu per l´Indipendenza" legte ein Verfassungsprojekt für ein unabhängiges Korsika vor, auch in der Bretagne meldeten sich die Unabhängigkeitsaktivisten zurück. Im Oktober 1998 übernahm die "Armee Revolutionnaire Bretonne" die Verantwortung für ein Attentat auf das Rathaus der ostfranzösischen Stadt Belfort, Wählerhochburg des Linksnationalisten Jean-Pierre Chevenement. Jahr für Jahr sorgten Aktionen bürgerlichen Ungehorsams für die Aufmerksamkeit der Medien und damit für den nötigen Druck, der dann zur Unterzeichnung der Charta führte.

Dabei hat Frankreich am 7. Mai nur ein Minimalprogramm akzeptiert. Die Unterzeichnerstaaten können nämlich selbst entscheiden, welche der insgesamt 98 Artikel der Charta sie übernehmen. Mindestens 35 sind Pflicht. Frankreich hat sich zur Umsetzung von 39 Artikeln bereit erklärt. Europaminister Pierre Moscovici betonte bei der Unterzeichnung in Budapest, man wolle sich auf jene Bereiche der Charta beschränken, die das linguistische Erbe Europas fördern, werde Angehörigen von Regional- und Minderheitensprachen jedoch keine Kollektivrechte zuerkennen. Die aus dem Elsaß stammende Kulturministerin Catherine Trautmann pflichtet ihm bei: "Es geht nicht darum, an den republikanischen Grundfesten zu rütteln, sondern darum, einen Weg zu finden, der den linguistischen Reichtum anerkennt. Freilich bleibt das Ganze in einem Rahmen, in dem die republikanischen Prinzipien klar gewahrt bleiben". Trotz dieser Einschränkungen scheint eine Änderung des Artikels 2 der Verfassung weiterhin notwendig zu sein. Dies ist jedoch nur durch Volksentscheid oder mit einer zwei Drittel Mehrheit des Parlamentes möglich. Die Verfassung dient den Gegnern der Charta damit als willkommenes Mittel, jeglichen Fortschritt zu verzögern.

Konkret hat sich Frankreich verpflichtet, "die wichtigsten nationalen Gesetzestexte und die Texte, die ausschließlich die Benutzer der Regional- und Minderheitensprachen betreffen, in diesen Sprachen zugänglich zu machen", wobei jedoch "nur die offizielle Version der Gesetzestexte in französischer Sprache rechtskräftig ist". Die Regierung genehmigt ferner "die Veröffentlichung der offiziellen Texte lokaler Gebietskörperschaften" in einer Regional- oder Minderheitensprache. Diese Bestimmungen dürfen der Verfassung nicht widersprechen, laut der "moralische Personen des öffentlichen Rechts und Personen des privaten Rechts in Ausübung einer Mission des öffentlichen Dienstes sowie die Benutzer (dieser Dienste) zum Gebrauch des Französischen verpflichtet sind".

Im Erziehungswesen (11 Artikel) sieht Frankreich einen auf die jeweilige Situation der betreffenden Sprache angepaßten Unterricht vor: Dies reicht vom wahlweisen Unterricht einer Regionalsprache bis hin zum Regelunterricht dieser Sprachen in Grund-, Ober-, Technischer und Hochschule als "integraler Bestandteil des Lernprogramms". Die Regierung stellt aber klar, daß Unterricht in einer Minderheitensprache die Schüler nicht "den Rechten und Pflichten entziehen" dürfe, "die für alle Benutzer gelten, die den öffentlichen Dienst im Unterrichtswesen gewährleisten oder dazu beitragen". Mit anderen Worten, die Fähigkeit, die Ausbildung in Französisch bestreiten zu können, darf nicht beeinträchtigt werden.

Für die Organisationen der Sprachminderheiten kann eine Sprachencharta, die eine der wesentlichen Bestimmungen ausklammert - nämlich den Artikeln aus Teil III zu "Regionalsprachen als Amts- und Gerichtssprachen" -, die Erosion der Sprachen in den Minderheitenregionen nicht aufhalten. Sie bleiben daher skeptisch. Das französische Komitee des EU - Büros der Sprachminderheiten und auch das lose Bündnis der Parteien der Minderheiten haben von der Regierung deshalb eine über die Artikel der Charta hinaus gehende, grundlegende Reform verlangt.

Sie fordern

     

  • die Abschaffung des Artikels 2 der französischen Verfassung,
  • die Ratifizierung sämtlicher Maßnahmen der Sprachencharta ohne Einschränkungen,
  • Unterricht in den Regionalsprachen an allen Schulen,
  • Ausbildung, Wettbewerb und Stellenbesetzung für Lehrer zweisprachiger Schulen,
  • die Umwandlung des Zentralstaates in einen Regionalstaat und die Schaffung von Wahlbezirken, in denen auch die Minderheitenparteien Wahlchancen haben.
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Die Liste region & peuples solidaires fordert die Schaffung der Regionen Savoie / Savoyen, Baskenland und Katalonien, eine bretonische Verwaltungseinheit, eine Reform der südfranzösischen Regionen mit besonderer Berücksichtigung der okzitanischen Sprache und die Wiedererrichtung der Regionen Flandern und Artois. Für die wirtschaftliche Entwicklung und Förderung sollen die zu schaffenden Regionalverwaltungen die Zuständigkeit haben.