22.04.2005

Vergessene Hölle Tschetschenien

Bei den russischen Präsidentschaftswahlen am 14. März 2004 stimmten 93% der Tschetschenen für Wladimir Putin. Eine höhere Prozentzahl erschwindelten die Manipulatoren in keiner anderen Provinz der Russischen Föderation. Der pro-russische Präsident Tschetscheniens, Achmad Kadyrow, stimmte sogleich mit dem Vorschlag, Putin zum Präsidenten auf Lebenszeit zu küren, in den Jubel mit ein. Die OSZE und Wahlbeobachter des Europarates kritisierten die Wahlen erwartungsgemäß als undemokratisch und manipuliert. Mit politischen Konsequenzen aus dem Ausland, die zu einer Veränderung in Tschetschenien führen würden, rechnet jedoch niemand mehr.

In Tschetschenien werden drei Konflikte ausgetragen. Im ersten operiert die russische Armee gegen tschetschenische Widerstandskämpfer, die für einen unabhängigen Staat eintreten. Im zweiten stehen sich russische Streitkräfte und eine wachsende Zahl radikalisierter und islamistischer Kämpfer gegenüber, die auch bereit sind, den Kampf in Form von Terroranschlägen nach Zentralrussland zu tragen. Im dritten und grausamsten Konflikt führen die schätzungsweise 80.000 russischen Soldaten, Polizisten und Geheimdienstmitarbeiter eine brutale Gewaltkampagne gegen die tschetschenische Zivilbevölkerung durch. Diese Kampagne begann im Herbst 1999 mit der beispiellosen Bombardierung Tschetscheniens, der vollkommenen Zerstörung der Hauptstadt Grosny und den Angriffen auf zivile Ziele wie Flüchtlingstrecks, Schulen und Krankenhäuser. In einer zweiten Phase des Krieges setzten die (unter dem Kommando der Geheimdienste operierenden) russischen Verbände massenhaft so genannte Säuberungsaktionen ein, um die Zivilisten zu terrorisieren. Tausende junger Männer wurden verhaftet, in den berüchtigten "Filtrationslagern" festgehalten, systematisch gefoltert und ermordet.

Verantwortlich für das Verschwindenlassen sind sowohl russische Soldaten als auch Angehörige der Milizen und der Leibgarde des von Russland in einer Wahlfarce eingesetzten tschetschenischen "Präsidenten" Achmad Kadyrow. Dies verdeutlicht die so genannte Tschetschenisierung des Konfliktes, ein erklärtes Ziel der russischen Politik: Pro-russische Tschetschenen unter der Führung Kadyrows sollen die Macht in Tschetschenien übernehmen, während sich die russische Armee, die wöchentlich etwa zehn Tote zu beklagen hat, zurückzieht. Diese Politik des "Teile und Herrsche" vertieft die Spaltung der tschetschenischen Gesellschaft und die Radikalisierung von Teilen davon.

Die ersten Monate 2004

Die russische Menschenrechtsorganisation Memorial dokumentierte 2003 fast 500 Fälle von Verschwindenlassen, wobei sie nur ein Viertel des tschetschenischen Territoriums in ihren Statistiken erfasst. Verantwortlich für die Verschleppungen sind Angehörige der russischen Verbände, die Milizen von Kadyrow und jene seines 27-jährigen Sohnes Ramzan. Der Fall einer Verhaftung von Mitarbeitern der Kadyrow-Leibgarde zeigt die derzeitigen Machtverhältnisse: In der Nacht vom 9. auf den 10. Februar nahmen tschetschenische Polizisten in Schali Mitarbeiter Kadyrows fest, die den Verwaltungschef der Region, Vacha Schanajew, zu kidnappen versucht hatten. Kadyrow vereitelte eine Anklage seiner Leute durch massiven Druck auf die zuständige Staatsanwaltschaft. Ein Polizist, der an der Verhaftung beteiligt gewesen war, wurde am 22. Februar von Mitarbeitern der Leibgarde des Präsidenten zusammengeschlagen.

Zu illegalen Verhaftungen und Verschleppungen kommt es vor allem nachts. Maskierte Soldaten, Angehörige des Geheimdienstes oder von Spezialeinheiten dringen in die Wohnungen der Tschetschenen ein und verschleppen insbesondere junge Männer, seit einigen Monaten aber vermehrt auch Frauen unter dem Vorwand, sie seien "Schachidinnen", also potenzielle Selbstmordattentäterinnen. Jeder militärische Kontrollpunkt verfügt über Gruben und Zellen, in denen Verschleppte festgehalten und gefoltert werden. Häufig erfährt man nicht, wo die Verschleppten festgehalten werden. Wenn es Angehörigen oder Menschenrechtsaktivisten dennoch gelingt, den Aufenthaltsort und die Verantwortlichen zu ermitteln, ist es in einigen Fällen möglich, Verhaftete wieder freizukaufen. Der Preis dafür ist in den letzten Jahren auf 1.000 bis 3.000 US-Dollar gesunken (früher waren es 5.000 bis 10.000 Dollar). Dennoch müssen die betroffenen Familien teilweise ihr Haus oder ihre Wohnung verkaufen oder aber ein ganzes Dorf muss sammeln, um die Summe aufzubringen.

Menschenrechtler in Gefahr

Fortgesetzt wurde 2004 auch die Verfolgung von Menschenrechtsaktivisten. Am 10. Januar wurde Aslan Dawletukaew, Mitarbeiter der Gesellschaft für Russisch-Tschetschenische Freundschaft, von Angehörigen einer russischen Todesschwadron ermordet. Sein Leichnam war, von Folter und Misshandlungen gezeichnet, in der Nähe der Autobahn bei Gudermes aufgefunden worden. Seine Arme und Beine waren gebrochen worden, sein Körper zeigte Wunden, die ihm durch ein scharfes Metallobjekt zugefügt worden waren. Getötet worden war er schließlich durch einen Schuss in den Hinterkopf. Dawletukaew ist nicht der erste tschetschenische Menschenrechtler, der ermordet wurde. So wurde am 1. Dezember 2002 die Menschenrechtlerin und ehemalige Bürgermeisterin der Stadt Alkan-Khala, Malika Umaschewa, von russischen Todesschwadronen hinterrücks erschossen. Am 21. Mai 2003 fiel Zura Bitieva, Menschenrechtlerin und ehemalige Gefangene des berüchtigten Tschernokosowo-Gefängnisses, mit mehreren ihrer Familienmitglieder einem Mordanschlag zum Opfer. Andere Menschenrechtler befinden sich permanent in Lebensgefahr.

Katastrophale humanitäre Lage

Laut Nachforschungen der Organisation mondiale contre la torture (OMCT) wurden in Tschetschenien 80% aller Wohnhäuser zerstört oder stark beschädigt. 20% der Dörfer wurden vollständig dem Erdboden gleichgemacht. Das Ausmaß der Zerstörung wird auch an folgenden Zahlen deutlich: von 439 noch 2001 noch erhaltenen Schulen sind 38 nach offiziellen Angaben vollkommen zerstört worden, 231 müssen neu aufgebaut werden, 50 müssen vollkommen renoviert werden und die restlichen müssen leicht renoviert werden. Von 325 Kindergärten und -krippen sind 308 wegen Zerstörung geschlossen.

In Grosny versuchen die Menschen, ihre zerbombten Behausungen so gut es geht in Stand zu setzen. Nach Angaben der tschetschenischen Menschenrechtlerin Lipkan Basajewa leben in der Stadt derzeit knapp 200.000 Personen; vor dem Krieg waren es fast doppelt so viele. Während der Teppichbombardements im Herbst und Winter 1999 und 2000 sank sie auf wenige Tausende ab. Im Straßenbild tauchen Hilfe suchende Frauen und Kinder auf, die frisches Trinkwasser an den Tanklastern holen oder auf dem Markt etwas ver- oder einkaufen. Die Statistiken belegen dieses Bild: In der Stadt leben 35 % weniger Männer als Frauen; 92 % von ihnen sind arbeitslos. Das krasse Ungleichgewicht erklärt sich daraus, dass viele Männer getötet wurden und die verbliebenen stärker als Frauen der Verfolgung ausgesetzt sind.

"Ihr werdet alle nach und nach an verschiedenen Krankheiten und Stress sterben, wenn das so weitergeht", sagte ein russischer Professor zu Zainap Gaschajewa, als im Februar 2004 ihre Schwester an Krebs starb. Die Menschen sterben zu früh in Tschetschenien, und es sind zu viele die sterben, zu viele, die krank sind. Die Anzahl der Tuberkuloseerkrankungen ist drei- bis viermal höher als in den anderen Staaten der Russischen Föderation: 325 von 1.000 Personen in Tschetschenien leiden an Tuberkulose (in Russland sind es schätzungsweise 134 von 100.000 Personen). Außerdem wurden mit 5.695 Personen im Jahr 2002 in Tschetschenien weltweit am meisten Menschen Opfer von Landminen. Das Land bleibt massiv vermint, immer wieder kommt es zu Verstümmelungen und zu tödlichen Unfällen.

Russlandromantik im Westen

Vier Jahre Krieg in Tschetschenien, schätzungsweise 160.000 Tote, also knapp 20% des tschetschenischen Volkes, Russland auf dem Weg zurück zum Stalinismus, dies ist die Bilanz einer gescheiterten europäischen Politik. Ist das Schweigen Europas bzw. die aktive Unterstützung russischer Aggression in Tschetschenien ein Dank für Putins Rolle im internationalen "Kampf gegen den Terrorismus", gibt es für das Verhalten wirtschaftliche, geostrategische oder historische Gründe? Putin ist als größter Gewinner aus dem 11. September 2001 hervorgegangen. Die Neu-Interpretation des Krieges im Kaukasus eröffnete Bundeskanzler Gerhard Schröder, als Putin am 25. September 2001 Berlin besuchte und Schröder dafür plädierte, den Tschetschenienkrieg "differenzierter” zu betrachten. Doch schon der Regierung unter Bundeskanzler Kohl wurde Schweigen und Mitschuld (von der SPD/Grünen-Opposition) vorgeworfen.

In einem in "Die Welt" am 10. Januar 2004 veröffentlichten Artikel warnt der französische Philosoph André Glucksmann vor einem Fortsetzen der bisherigen europäischen Politik – allein, auf ihn hört die Politik nicht, nicht der Journalismus und nicht seine intellektuellen Kollegen. Glucksmann wünscht sich, "dass die braven Leute, die Naivlinge, die Schlaumeier, die sich für schlauer als die Wirklichkeit halten, kurzum, dass alle Menschen im Westen ihren russischen Traum aufgeben. Dass sich die Menschen im Westen die Augen reiben und aufhören, sich Russland so vorzustellen, wie sie es gern hätten, ihren Utopien oder ihren Interessen entsprechend. Dass sie es endlich als das ansehen mögen, was es ist, nämlich zutiefst fragwürdig und zuweilen höchst beunruhigend. Liberale oder Globalisierungsgegner, Atlantisten oder Amerikahasser, die meisten politischen Aktivisten, Kommentatoren und Berufspolitiker, sie alle sind von Putin wie hypnotisiert. George W. Bush hat ihm tief ins Blau seiner Augen geschaut und ist darin versunken. Berlusconi spricht ihn frei von Vorwürfen wegen der Massaker, der Folter, der eingeebneten Städte in Tschetschenien – alles bloß Gerüchte, wie er schwört. Chirac nimmt den KGB-Mann in sein "Friedenslager" auf – Paris-Berlin-Moskau –, rollt den roten Teppich zu Füßen des Mörders aus und tönt dabei, dass Moskau "in der vordersten Reihe der Demokratien" galoppiere.

Glucksmann geißelt den Tausch Geschäfte gegen Menschenrechte: "Mit geschlossenen Augen überschütten die Mächtigen unserer Welt die sich im Kreml ablösenden Mannschaften mit Komplimenten und Krediten. Das neue eurasische Eldorado weckt schärfste Träume. Seit vielen Jahren schon reden sich Prodi und seine Brüsseler Kommission den Mund fusselig und werben dafür, in die sibirischen Bohrungen und Pipelines zu investieren. […] Das offizielle Europa hält an seiner Linie fest. Was heißt da schon Menschenrechte, Meinungsfreiheit, willkürliche Ukasse [Verordnungen d. Zaren, Anm.d.R.], unvorhersehbares Machtgerangel in den Vorzimmern des Kreml.

Pessimistisches Resümee von Glucksmann: "Aus Gründen der kommerziellen Rivalität wird man sich an Unterwürfigkeit überbieten. Ein honigsüßer Chirac begleitet Putin zu seinem Flugzeug zurück, Berlusconi öffnet ihm seine Villen, Bush empfängt ihn auf seiner Ranch, Blair bei seiner Königin und Schröder an seinem Urlaubsort. Wolodja sackt ein und glaubt sich alles erlaubt. Der verträumte Westen hat ihn zum Zaren gekrönt."

Wachen wir endlich auf. Soldaten, die in Tschetschenien Zivilisten ausplündern, vergewaltigen und ermorden, werden nach ihrer Rückkehr nicht so schnell zu normalen Bürgern. Eine durch 70 Jahre Kommunismus verblödete und die folgenden Versäumnisse enttäuschte Bevölkerung watet durch lähmende Verzweiflung. Eine im Totalitarismus ausgebildete orientierungslose Elite droht in einen schranken- und tabulosen Nihilismus abzudriften. Aus der Sowjetherrschaft führen zwei Wege: der von Havel und der von Milosevic.

"Jedes Mal, wenn der Westen kopflos auf das russische Wunder gesetzt hat, ist er gestolpert und in ein schwarzes Loch gefallen. [...] Indem Europa den jeweiligen Kremlherren mit ihren jeweiligen Methoden freie Hand lässt, richtet es sich am Rande des Abgrunds ein, den es zu vertiefen hilft. Noch ist nichts unwiderruflich, aber unsere politischen Führer schlagen eine falsche Richtung ein."

Aber unsere politischen Führer halten sich für besonders klug – und hören dem Philosophen nicht zu. Keiner aber wird behaupten können, er hätte vom Genozid nichts gewusst.