27.04.2005

Zapatistische Gemeinden proben die Selbstverwaltung

Preguntando caminamos

Die zapatistischen und indigenen Bewegungen in Chiapas feierten im August in Oventik im Hochland ihr einjähriges Experiment. Vor einem Jahr schlossen sich fünf aufständische Regionen zur "Junta der guten Regierung" zusammen. 30 Landkreise und hunderte Gemeinden mit mehreren hunderttausend Menschen bilden die autonome zapatistische Region. Die EZLN-Chronistin Gloria Munoz Ramirez beschreibt diese Entwicklung als eine "neue Etappe der indigenen Autonomie". "Wir setzen nun einfach das Abkommen von San Andres um", kommentiert EZLN-Kommandantin Esther das Experiment. Ein wesentlicher Punkt im Friedensabkommen von San Andres bezieht sich auf indigene Rechte und Kulturen.

Vor zehn Jahren, am 1. Januar 1994, trat die zapatistische Befreiungsbewegung mit der Besetzung mehrerer Städte an die Öffentlichkeit. In diesen Jahren haben die Zapatistas einiges bewegt: Ihre Forderungen nach indigener Autonomie, nach demokratischen Strukturen und Abkehr von der neoliberalen Wirtschaftspolitik haben sich weltweit ausgewirkt. Sie hatten Anteil an der Abwahl der ehemaligen Staatspartei PRI.

Die Gemeinden im Widerstand sind bitterarm und von den Militärs bedroht. Doch sie haben ihre Würde zurückerobert, denn seit Jahren leben die zapatistischen Dörfer in faktischer Autonomie, die im August 2003 mit der Ausrufung einer eigenen basisdemokratischen Verwaltung formalisiert wurde. "Nur im Widerstand und in der Rebellion können wir unsere Autonomie als indigene Völker aufbauen", heißt es im Kommuniqué der Zapatistas. Diese fünf aufständischen Regionen nennen die Zapatistas "Caracoles", Schneckenmuschel. Sie steht für basisdemokratisches Selbstverständnis – zuhören, diskutieren und gemeinsam entscheiden.

Die EZLN, die seit Mitte Januar 1994 nicht mehr militärisch agiert, warnte die Paramilitärs und die staatlichen "Sicherheitskräfte" vor militärischen Aktionen, erteilte dem undemokratischen, ultra-neoliberalen "Modernisierungs-"Projekt Plan Puebla Panamá (pogrom-bedrohte Völker Nr. 4/2004) – welches Staudämme, Biopiraterie, Vertreibung u.v.a. bedeuten würde – eine Absage und bezeichnete eine mögliche Umsetzung durch die mexikanische Regierung als einen "Gang durch die Hölle".

Noch immer leidet die indigene Bevölkerung unter der Armut. "Wir Zapatisten nehmen kein Geld von der Regierung, auch wenn sie es uns immer wieder anbietet. Wir haben unsere Klinik, unsere Schule, unseren ökologischen Anbau, unseren Handel ohne Hilfe der schlechten Regierung aufgebaut."

Im Caracol Oventik macht man sich trotz "guter Regierung" und internationaler Solidarität keine Illusionen auf einen schnellen Frieden. Die zapatistische Bewegung baut im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas trotz anhaltender Bekämpfung durch die Regierung unabhängige Strukturen auf. Weit weniger bekannt sind die leisen Dinge, der mühsame, aber stetige Aufbau eigener Strukturen in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Verwaltung, Recht und Wirtschaft. Nicht ohne Stolz verweisen die Zapatisten auf ihre Errungenschaften: "Wir lehren unsere Kultur, Gemeinschaftssinn und Respekt für unsere Mutter Erde." Innerhalb der Bewegung haben sich auch die Frauen organisiert – nicht selten gegen die eigenen Compañeros. Sie konnten 1993 "revolutionäre Frauengesetze" durchbringen, die ihnen grundlegende Rechte wie die Wahl des Ehegatten, Bestimmung der Kinderzahl, Reiseerlaubnis oder Mitarbeit in der Guerilla garantieren. Subcomandante Marcos, Sprecher der Zapatistischen Befreiungsarmee EZLN, sorgte letzthin mit einer Serie von Communiqués für Aufregung. Polizei, Armee, Staat und Parteien wirft Marcos vor, ins Mittelalter zurückzudrängen. Kritisch äußerte er sich auch über die autonomen zapatistischen Gemeinden. Während die Partizipation der Frauen in den EZLN-Strukturen zwischen 33 und 40% liege, müsse die Lage in den Dörfern weiter verbessert werden: "Wir können, was die Frauen angeht, immer noch keinen guten Bericht abliefern". Marcos räumt ferner ein, dass der Einfluss der EZLN als politisch-militärische Organisation in den Gemeinden zum Teil noch zu groß sei: "Die Idee war, dass die EZLN die Gemeinden bei der Errichtung ihrer Autonomie begleiten und unterstützen sollte. Diese Begleitung verwandelte sich jedoch manchmal in Verwaltung, Beratung in Anweisungen und die Unterstützung in Behinderung". "Preguntando caminamos – Fragend schreiten wir voran", lautet ein Motto der Zapatistas.

Dieses Motto ist auch der Titel der anthropologischen Studie von Philipp Gerber (Universität Zürich). Laut Gerber stellen die Bezirke im Widerstand eine Macht dar, "welche die chiapanekischen und bundesstaatlichen Regierungen nicht ignorieren können". Aus diesem Grund sind "die zivilen zapatistischen Basisgemeinden und mit ihnen die autonomen Strukturen seit jeher ein Ziel der Aufstandsbekämpfung gewesen". Erwähnt wird in der Studie das Massaker von Acteal, das verübt wurde, nachdem die Bevölkerung von Chenalhó sich in autonomen Strukturen organisiert hatte. 1998 wurden mehrere autonome Bezirke gewaltsam geräumt "und viele Repräsentanten der autonomen Verwaltung wurden festgenommen".

Das "Recht auf die Errichtung einer eigenen Modernität" einfordernd, verfolgt der Zapatismus nicht den Separatismus; der mexikanische Staat ist nicht in seiner Souveränität gefährdet. Die Rebellen sehen im Instrument der Autonomie eine Chance auf eine Anerkennung zweier Rechte: Das Recht auf Gleichheit und die Anerkennung als vollwertige Staatsbürger sowie das Recht auf Anderssein – das heißt die Anerkennung der indigenen Kulturen als Teil der mexikanischen Realität.

Spätestens 1992, dem kritisierten 500-Jahr-Gedenken für Christoph Columbus, begann die Idee der Selbstbestimmung konkret zu werden. Der Zapatismus strebt nicht die Abgrenzung von den mestizischen und weißen Mexikanern an, sondern einen plurikulturellen Wandel der mexikanischen Gesellschaft, eine Emanzipation von der seit Jahrzehnten das Land beherrschenden Oligarchie. Die Umsetzung der Autonomie sorgt jetzt für Diskussion. Sollen sich Regionen mit mehreren zehntausend Bewohnern zusammenschließen und eine autonome Verwaltung bilden, wie dies die "regionalistas" fordern? Oder ist das einzelne Dorf die natürliche Größe für die indigene Selbstbestimmung, wie die "comunalistas" meinen. Die zapatistische Autonomiebewegung setzt eine Zwischenposition um, die der autonomen Munizipalitäten. In einem "municipio" sind zwischen zwanzig und hundert Dörfer zusammengeschlossen; derzeit gibt es 38 autonome Munizipalitäten.

Die "municipios rebeldes zapatistas" standen in den letzten zwei Jahren im Zentrum der Auseinandersetzungen. Immer wieder wurden Versuche der Regierung, ihre "remunicipalisación" durchzuführen – Bildung von Munizipalitäten mit mestizischen Hauptorten und somit PRI-Mehrheiten – erfolgreich durch massive Präsenz der zapatistischen Basis verhindert. Immer stärker wird auch die Stimme der autonomen Munizipalitäten. In Zeiten harter Repression gegen die zapatistischen Gemeinden melden sich die Direktbetroffenen ohne Vermittler zu Wort: "Wir möchten der ganzen Welt sagen, dass wir, die Indigenen, immer noch hier sind. Selbst im Angesicht einer alles umfassenden Militarisierung leisten wir Widerstand. Nicht einmal mit ihren Jagdbombern können sie das Herz unseres Volkes zerstören."

Dazu kommt die besondere Diskriminierung der Indígenas, die einen Anteil von mindestens 20 Prozent unter den heute etwa vier Millionen Chiapaneken ausmachen und lange Zeit nicht einmal das Recht hatten, in der Stadt San Cristóbal de las Casas die Bürgersteige zu benutzen.

In ihrem Kerngebiet im Lakandonischen Urwald und im Hochland um San Cristóbal ist der Einfluss der EZLN groß, aber seit längerem nicht mehr unumschränkt. Im Windschatten von Armeepräsenz und von offizieller Seite geduldeten paramilitärischen Gruppen haben sich ganze Gemeinden oder Teile von ihnen den Zapatisten entzogen. Wie die alten PRI-Regierungen fördern die Bundesregierung unter Fox wie auch die chiapanekische Landesregierung mit von der EZLN abgelehnten Sozial- und Infrastrukturprogrammen die Spaltungstendenzen. Alte Land- und Besitzkonflikte leben wieder auf. Der seit August 2003 umgesetzte Entschluss der Zapatisten, die eigenen Autonomiestrukturen mit den "Räten der Guten Regierung" zu stärken und voranzutreiben, ist eine Antwort auf diese Situation. Einen größeren Verlust der politischen und sozialen Hegemonie in ihrem Stammgebiet kann sich die EZLN nicht leisten.

Quellen:

Kirchliches Menschenrechtszentrum Centro de Derechos Humanos Fray Bartolome de las Casas: www.laneta.apc.org/cdhbcasas

Zentrum für ökonomische und politische Forschung Ciepac: www.ciepac.org

International Service for Peace: www.sipaz.org

Zapatistisches Netzwerk: www.fzln.org.mx

EZNL: www.ezln.org

Congreso Nacional Indigena: www.laneta.apc.org/cni

Direkte Solidarität mit Chiapas: www.chiapas.ch

Literaturverzeichnis

Luz Kerkeling: "La Lucha sigue! EZLN – Ursachen und Entwicklungen des zapatistischen Aufstandes", UnRast 2003

Gerold Schmidt: "Der Indio-Aufstand in Chiapas", Droemer Knaur 1996.