Foto: © Warchi/iStock

Liebe Leserin, lieber Leser,

ich habe einen Lieblingspulli. Er ist weinrot. Mein jüngerer Bruder und ich witzeln manchmal, dass, hätte unsere Familie ein Wappen, es auf jeden Fall ein hellgrauer Otter auf dunkelrotem Grund wäre. Denn alle Mitglieder meiner Familie tragen gerne dunkelrot. Auf einem zufällig entstandenen Familienfoto habe ich meinen weinroten Pulli an, meine Mutter trägt ein dunkelrotes Fleece, mein Vater hat eine rote Regenjacke in der Hand, mein jüngerer Bruder trägt ein sehr dunkelrotes T-Shirt und mein älterer Bruder hat einen Kapuzenpullover mit Reißverschluss in fast gleicher Farbe übergeworfen. Kein Wunder, dass ich mich in meinem weinroten Pullover immer ein bisschen zu Hause fühle.

Wie sehr Kleidung aber das Gefühl von zu Hause ausdrücken kann, ist mir erst in einem Gespräch für diese Ausgabe richtig bewusstgeworden. Ich habe ein Interview mit dem jungen Modedesigner Samir Maombi geführt. Er ist vor Jahren aus seiner Heimat, der Demokratischen Republik Kongo, geflohen. Seine Familie starb. Nun lebt er im Flüchtlingslager in Kenia, umgeben von tausenden Menschen verschiedenster Kulturen. Die Kulturen beeinflussen seine Arbeit, seine Muster und Schnitte – und seine Arbeit verbindet die Kulturen. Wenn er Menschen sieht, die seine Kleidung tragen, fühlt er sich glücklich, als sei er angekommen.

Wie wir uns kleiden, sagt viel über uns aus. Kleidung ist ein Teil unserer Identität. Durch sie fühlen wir uns zugehörig oder grenzen uns bewusst ab. Tibeter*innen in der „Autonomen Region Tibet“ tragen jeden Mittwoch ihre traditionelle Kleidung, um ein Zeichen gegen den aufgezwungenen Einfluss der chinesischen Regierung zu setzen. Tibeter*innen im Exil tun es ihnen aus Solidarität öffentlichkeitswirksam auf Demonstrationen gleich.

Nicht nur im Fall der Tibeter*innen ist Kleidung hoch politisch. Die türkische Regierung ging so weit, dass sie eine bestimmte Art von Hemd und Hose verbot. Der Grund: Sie stufte diese Kleidung als kurdische Nationaltracht ein. Das ist sie eigentlich nie gewesen. Und doch stehen jenes Hemd und jene Hose heute wie kaum ein anderes Kleidungsstück für kurdische Identität, Widerstand, Emanzipation, Tradition und Moderne – Moderne besonders dadurch, dass sie mit anderen Vorstellungen von Kleidung gekreuzt wird.

Die „moderne“, westlich geprägte Kleidung bestimmt auch heute noch das Ideal vieler Länder. Die Modebranche ist elitär. Und doch bewegt sich langsam etwas. In Brasilien versuchen die Verantwortlichen großer Mode-Shows durch eine Quotenregelung der Diversität der Gesellschaft gerechter zu werden. Gleichzeitig erkämpfen sich Vertreterinnen und Vertreter unterrepräsentierter Gruppen ihren Platz. Eine indigene Modedesignerin erzählt in dieser Ausgabe, wie sie die Branche von innen verändern will.

Gehen Sie mit dieser Ausgabe auf Tuchfühlung, denn Mode ist so viel mehr als ein paar Stücke Stoff.

Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre!

Herzliche Grüße

Johanna Fischotter



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