Sirazul Islam und seine Großmutter im Flüchtlingslager Kutupalong. Acht Jahre seines Lebens verbrachte Sirazul hier. Seine Großmutter lebt bis heute in dem Lager. Foto: Sirazul Islam

Flüchtling, Jurastudent, Aktivist bei der British Rohingya Community: Sirazul Islam wuchs im Flüchtlingslager in Bangladesch auf. Wie 1,3 Millionen andere Angehörige der Rohingya-Minderheit war seine Familie vor der Gewalt und Diskriminierung aus Myanmar/Burma geflohen. Im Interview berichtet der heute 20-Jährige von seiner Hoffnung für die nächsten Generationen seines Volkes.

 

Wie sieht dein Aktivismus aus?

Ich bin Aktivist für die Menschenrechte aller Menschen – aber besonders der Rohingya. Da ich selbst Rohingya bin, fühle ich mich verantwortlich, etwas zu tun. Ich halte Reden auf nationaler und internationaler Ebene, um auf die Situation meines Volkes aufmerksam zu machen. Ich schreibe Berichte und Artikel und ich spreche mit Politiker*innen. Ich stehe auch regelmäßig in Verbindung mit Rohingya, die in den Flüchtlingslagern in Bangladesch leben, um zu verstehen, wo sie mich brauchen.

Was motiviert dich? Und welche Erfahrung hast du als junger Menschenrechtsaktivist gemacht?

Ich glaube, dass Taten von heute Auswirkungen auf die Zukunft haben. Wir sind verantwortlich dafür, eine bessere Welt für die nächsten Generationen zu schaffen – eine Welt, die wir selbst nicht haben konnten. Daher ist für mich klar, warum ich mich politisch engagiere. Doch jung sein hat auch Nachteile im Aktivismus: Leute nehmen dich nicht ernst, weil du zu jung bist. Ich wurde zum Beispiel vor ein paar Tagen angerufen, um für eine Fernsehsendung ein Interview zu den Präsidentschaftswahlen in Myanmar zu geben. Nachdem sie gesehen haben, wie alt ich bin, meinten sie: ‚oh, du hast nicht genug Erfahrung‘, und sagten das Interview ab. Das war sehr entmutigend für mich. Aber wir dürfen uns von solchen Rückschlägen nicht bremsen lassen.

 

Wie bist du Aktivist geworden?

Um zu antworten, muss ich meinen Hintergrund erklären: Ich bin im Flüchtlingslager Kutupalong in Bangladesch geboren und habe dort gelebt, bis ich 8 Jahre alt war. Bis ich 2008 nach Großbritannien kam, war mir nicht bewusst, dass mein Leben das eines Flüchtlings war. Als ich 14 oder 15 Jahre alt war, entwickelte ich ein Bewusstsein dafür, als mein Interesse an Nachrichten und Politik wuchs und auch Gespräche sich mehr um Politik drehten. Das erste Thema, mit dem ich mich beschäftigte, war der Israel-Palästina-Konflikt. Der Konflikt war so kompliziert, dass ich mehr Informationen suchen musste. Dadurch ist mir erst bewusst geworden, dass auch ich staatenlos und ein Flüchtling war. Also habe ich angefangen, meinen Eltern und meinem Bruder mehr Fragen zu stellen. Sie haben 18 Jahre im Lager gelebt. Meine Großmutter, die immer noch dort ist, hat 30 Jahre ihres Lebens im Lager verbracht. Ich dachte: ‚Das sollte nicht passieren, nur weil wir muslimisch sind, nur weil wir Braun sind, nur weil wir Rohingya sind oder nur weil wir eine andere Kultur haben. Es ist unfair.‘ Diese Erkenntnis hat mich zum Aktivisten gemacht.

Wie sah ein typischer Tag in deiner Kindheit im Flüchtlingslager aus? 

Ich bin der Regierung Bangladeschs dankbar – aber bei allem Respekt, meine Erfahrungen waren für ein Kind nicht ideal. In Bangladesch wachten wir um 5 Uhr morgens auf. Wir gingen zur Moschee und dann zur sogenannten ‚Schule‘. Ich sage das so, weil es keine richtige Schule war, sondern ein Lernzentrum ohne richtiges Curriculum. Wir haben nur die simpelsten Grundlagen der Mathematik gelernt, das heißt von 1 bis 10 zu zählen, Addition und Subtraktion. Das war‘s. Als ich in Großbritannien ankam, kannte ich kein Alphabet. Dabei war ich fünf Jahre in die Schule gegangen! Doch zurück zum Alltag meiner Kindheit. Nach der ‚Schule‘ gab es nichts zu tun. Ich machte mir Sorgen über mein nächstes Essen und über die Gewalt gegen meine Gemeinschaft. So sollte kein Kind aufwachsen.

Ein Kind auf dem weg zur Schule - doch die Bildung, die Kinder im Flüchtlingslager erfahren, ist unzureichend. Foto: Sirazul Islam

Wie hast du als Kind von der Geschichte deiner Gemeinschaft erfahren?

Ich lebte mit meinen Verwandten mütterlicherseits zusammen. Die Familie meines Vaters fehlte. Jedes Mal, wenn sie erwähnt wurde, war es durch eine Geschichte der Gewalt. Je älter ich wurde, desto mehr wurde mir bewusst, dass die Geschichten der Rohingya sich alle ähneln. Mein Vater hat durch Zwangsarbeit und unter der Armee gelitten. Meine Mutter und meine ganze Familie wurden durch die Armee belästigt. Mein Cousin wurde 2017 von der Armee erschossen. Ich habe die Geschichte der Rohingya durch die Geschichte meiner Familie erlebt. Rassismus und Diskriminierung habe ich mit eigenen Augen gesehen. Ich habe Polizist*innen gesehen, die Schmiergeld verlangten und Leute vor mir verprügelten. Darüber zu sprechen, wird zu einer Art Identität. Viele junge Rohingya wie ich wollen nicht vergessen. Deswegen sprechen wir über die Gewalt und die Zeit im Lager.

Wann ist dir klargeworden, dass du keine typische Kindheit hattest?

Es gab keinen bestimmten Moment. Ich war nie mit dem Bus gefahren, hatte weder eine Straßenlaterne noch eine Autobahn gesehen. Ich lebte in keinem richtigen Haus und hatte keinen Zugang zu fließendem Wasser – aber ich kannte nichts anderes. Erst als ich in Großbritannien ankam, verstand ich, dass das Leben viel mehr ist, als ich im Lager erfahren durfte; dass eine Schule einem Achtjährigen das Alphabet oder Mathematik lehren muss. Als mir bewusstwurde, dass ich im Vergleich zu meinen Freund*innen in der Schule in England nichts konnte, verstand ich, dass meine Kindheit anders gewesen war.

Als du 8 Jahre alt warst, hat sich dein Leben verändert. Wie kam es dazu?

Wir sind durch das Gateway Protection Program (dt.: Gateway-Schutzprogramm) der Vereinten Nationen (UN) nach Großbritannien gekommen. Es siedelte Gruppen von Menschen in Diasporagemeinschaften um. In Bradford, Großbritannien, wo ich lebe, gibt es aktuell 360 Menschen, die durch die UN in die Stadt gekommen sind. Das Programm wurde 2012 allerdings gestoppt, als eine neue Regierung in Myanmar an die Macht gekommen ist.

Wie ist das Leben für Kinder im Lager Kutupalong heute?

Ich bin im vergangenen Januar nach Kutupalong gereist und fünf Wochen geblieben. Ich wohnte bei meinen Großeltern, genau dort, wo ich aufgewachsen bin. Ich habe die aktuellen Lebensbedingungen im Lager gesehen. Es hat sich nichts verbessert – im Gegenteil: Es hat sich noch verschlimmert! Kinder kämpfen mit denselben Widrigkeiten wie ich damals, aber unter 10 oder 20 Mal schlechteren Bedingungen. Sie haben immer noch keine Zukunftsaussichten, weil sie keine richtige Ausbildung bekommen und es ist ihnen nicht erlaubt, das Lager zu verlassen.

Du hast ungefähr die Hälfte deines Lebens im Flüchtlingslager in Bangladesch verbracht und die andere Hälfte in Großbritannien. Wie stellst du dir deine Zukunft vor?

Mein Ziel ist es, Anwalt zu werden und weiter politisch aktiv zu sein. Ein Teil meines Lebens gehört meiner Gemeinschaft. Ich möchte in der Lage sein, einen Unterschied im Leben von Menschen zu machen und eine bessere Zukunft für sie zu garantieren. Ich möchte versuchen, eine Verbindung zu unserer Kultur aufrechtzuerhalten. Wir wurden verfolgt, weil unsere Kultur anders ist. Diese Kultur zu vergessen, wäre in meinen Augen ein Verbrechen.

Auch deswegen ist die Arbeit der jüngeren Generation so wichtig, denke ich. Vielen Dank für das Gespräch.


Lina Stotz führte das Interview. Thelma Divry transkribierte und übersetzte es aus dem Englischen.



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