Die Karte von submarinecablemap.com zeigt die bisher verlegten Unterseekabel. Einige der großen US- amerikanischen Tech-Unternehmen haben in diesem Infrastruktursektor stark investiert. So plant etwa Meta das längste Unterseekabel der Welt, das über 50.000 Kilometer lang werden und fünf Kontinente verbinden soll.

Karte: Submarine Cable Map

 

„Neokoloniale Strukturen verunmöglichen eine digitale Aufholjagd des Globalen Südens“

Ingo Dachwitz hat zusammen mit Sven Hilbig von Brot für die Welt ein Buch mit dem Titel „Digitaler Kolonialismus“ geschrieben. Mit uns sprach der Journalist und Kommunikationswissenschaftler über neue Formen der Ausbeutung, die Macht der US-amerikanischen Tech-Konzerne und die Frage, wie Europa und der Globale Süden gemeinsam an mehr digitaler Souveränität arbeiten könnten …
 

Von Holger Isermann

Zusammen mit Sven Hilbig von Brot für die Welt hat Ingo Dachwitz ein Sachbuch über den digitalen Kolonialismus geschrieben. Es ist für den Deutschen Sachbuchpreis 2025 nominiert. Foto: C.H. Beck

 

Herr Dachwitz, Digitaler Kolonialismus – ist das vor allem ein pointierter Titel oder sehen Sie wirklich belastbare Parallelen zu Sklavenhandel, Ausbeutung und Vertreibung durch die Europäer?

Wir beschäftigen uns im Buch mit den globalen Ausbeutungs- und Machtverhältnissen hinter der Digitalisierung. Wer da genauer hinschaut sieht relativ schnell, dass es nicht nur Parallelen mit dem Kolonialismus gibt, sondern durchaus auch Kontinuitäten. Deshalb verwenden wir den Begriff mit Überzeugung.

Wer sind die Kolonialherren der Gegenwart? Die Tech-Unternehmen aus dem Silicon Valley?

In erster Linie profitieren die großen Tech-Konzerne aus den USA von der ausbeuterischen Arbeitsteilung und den Rohstoffen. Es sind aber auch chinesische Unternehmen dabei und wenn wir auf die Europäische Union blicken, gibt es gerade beim Rohstoff- Extraktivismus neokoloniale Aspekte.

 

Ingo Dachwitz arbeitet als Journalist bei netzpolitik.org und schreibt dort häufig über Datenschutz, Big Tech und Lobbyismus. Im vergangenen Jahr wurde er mit dem Alternativen Medienpreis und dem Grimme-Online-Award ausgezeichnet.
Foto: Darja Preuss

Das klingt so, als ob die Länder des Globalen Südens sich zwischen drei schlechten Partnern entscheiden können: China, den USA und Europa?

Das ist die Situation, wobei Europa insgesamt eine kleinere Rolle spielt. Die anderen beiden sind die dominierenden digitalen Großmächte. China beispielsweise hat über viele Jahrzehnte im Globalen Süden digitale Infrastruktur ausgebaut und Abhängigkeiten geschaffen …

 

… im Zuge der Neuen Seidenstraße?

Genau. Die hat auch eine digitale Komponente, die sich in erster Linie auf dem afrikanischen Kontinent abspielt, wo sehr viel Telekommunikationsinfrastruktur von chinesischen Konzernen gebaut und durch chinesische Kredite finanziert wurde. Hier lautete der Deal häufig: Rohstoffe gegen Infrastruktur. So schafft China langfristige Abhängigkeiten.

 

Bedeutet Infrastruktur in diesen Fällen Macht?

Infrastruktur bedeutet immer Macht, auch und gerade im Digitalen. Denn wer die Infrastrukturen besitzt, kann entscheiden, welche Daten mit welcher Geschwindigkeit weitergeleitet werden. Daten und Profite fließen in diesem System nur in eine Richtung. Deshalb ist dies für die großen Big-Tech-Unternehmen auch ein sehr wichtiges Thema und sie haben in den letzten Jahren massiv in die digitale Infrastruktur investiert – zum Beispiel in den Ausbau von Unterseekabeln. Die Künstlerin Esther Mwema aus Sambia bezeichnet Internetinfrastrukturen folgerichtig als die neuen Frontiers des digitalen Kolonialismus.

Ist das Buch aus einer linken Perspektive geschrieben oder würden Ihrer Einschätzung nach auch Menschen aus der Mitte der Gesellschaft die Geschäftspraktiken kritisieren?

Wer in Europa lebt und ein relativ bequemes digitales Leben führt, merkt bei der Lektüre relativ schnell, dass er Teil der Ausbeutungsprozesse ist – und zwar sobald er sein Smartphone nutzt, ein E-Auto oder irgendeinen digitalen Dienst. Deshalb bewegt das Buch viele Menschen, die ich als Teil der bürgerlichen Mitte sehen würde. Das bekommen wir auch gespiegelt.

 

Das Internet galt einmal als urdemokratisches Medium, in dem jeder zum Kommunikator werden kann und die medialen Hürden verschwinden. Was ist aus dieser Vision geworden?

Das Internet als globale Kommunikationsinfrastruktur hat weiterhin ein großes emanzipatorisches Potenzial, aber die Erwartungshaltung, dass neue Technologien automatisch Freiheit oder das Ende von Diskriminierung bringen, war schon immer übersteigert. Wir müssen der Tatsache ins Auge blicken, dass ein Großteil des Internets heute von kapitalistischen Unternehmen übernommen wurde, die immer wieder aufs Neue beweisen, dass sie sich im Zweifel für den Profit und gegen die Freiheit entscheiden.

 

Haben Sie ein Beispiel?

Nach Infos der Whistleblowerin Frances Haugen hat Mark Zuckerberg etwa persönlich angewiesen, dass man sich bei Facebook den Zensurwünschen Vietnams beugen soll, nachdem die Regierung damit gedroht hat, Meta vom eigenen Markt zu verbannen. Außerdem wissen wir, dass die Tech-Konzerne trotz der hohen Gewinne nicht genug Geld ausgeben, um den Content auf ihren Plattformen zu überprüfen und zu moderieren, besonders im Globalen Süden. 2021 gab Meta laut Haugen 87 Prozent seines Budgets für Fact-Checking in den USA aus, obwohl dort nur 10 Prozent der Nutzer*innen lebten. Derzeit klagt beispielsweise Abrham Meareg gegen Meta, weil sein Vater während des äthiopischen Bürgerkrieges Opfer einer digitalen Verleumdungskampagne geworden ist, in deren Rahmen User auch seine Adresse verbreitet haben. Er wurde daraufhin vor seinem Haus erschossen. Facebook hat die falschen Informationen damals nicht gelöscht, obwohl Abrham Meareg diese meldete. Später stellte sich heraus: Meta beschäftigte schlicht nicht genug Moderator*innen mit Kenntnissen in den Landessprachen.

 

Monopolistische Strukturen hoch über uns: Die vertikalen Linien zeigen kürzlich ausgesetzte Starlink-Satelliten in der Nähe von New Mexico. Tech-Unternehmer Elon Musk gehören mittlerweile rund 60 Prozent aller Satelliten im Weltall. Foto: M. Lewinsky/Wikipedia BY 4.0

Woher kommen die Rohstoffe für die Digitalisierung und welche Formen der Ausbeutung gibt es hier?

Für Lithium-Ionen-Akkus braucht es unter anderem Kobalt. Das kommt zu drei Vierteln aus der Demokratischen Republik Kongo – einem der rohstoffreichsten Länder der Welt, das mehr als 160 Jahre koloniale Ausbeutungsgeschichte hinter sich hat. Erst hat der belgische König dort auf brutalste Weise Kautschuk und später mineralische Rohstoffe abbauen lassen. Heute gehören die Minen multinationalen Bergbaukonzernen aus den USA, China und Europa. Zwangsumsiedlungen für den Bau neuer Minen sind gut dokumentiert. Dabei kommt es immer wieder zu Gewalt und Toten, wie übrigens auch bei der Arbeit unter Tage selbst. Auch Kinderarbeit ist weiter ein Problem.

 

Und das Lithium …

… kommt vor allem aus dem so genannten Lithiumdreieck in Lateinamerika: Argentinien, Chile, Bolivien. Indigene Gemeinschaften protestieren dort gegen den Abbau und fordern mehr Teilhabe. Die Region ist eine der trockensten überhaupt und der Lithiumabbau sehr wasserintensiv. Die Menschen sorgen sich also, dass ihnen buchstäblich das Wasser abgegraben wird.

 

Sie haben sich auch mit den Klickarbeiter*innen beschäftigt. Können Sie uns die Arbeit und deren Bedingungen konkreter beschreiben?

Künstliche Intelligenz lebt vom Mythos, dass die magische Maschine allein alle Probleme löst: Klimawandel, Krebs, Hungersnöte. In Wirklichkeit steckt in der Wertschöpfungskette aber viel manuelle Arbeit. Und zwar, weil das, was wir als KI bezeichnen, in der Regel auf Machine Learning und großen Sprach- wie Bildmodellen beruht. Die dafür benötigten Trainingsdaten müssen in vielen Fällen zuvor manuell aufbereitet werden.

Foto: Huawei

Wie können wir uns das vorstellen?

Vereinfacht gesagt: Ein Bilderkennungsalgorithmus weiß nicht von alleine, wie eine Katze aussieht, sondern muss dies beigebracht bekommen. Deshalb wird er mit Tausenden von Katzenbildern gefüttert. Diese müssen mit den richtigen Metadaten versehen sein, also dem Label „Katze“. Das nennt man Daten-Annotation, die Arbeiter*innen umzeichnen häufig zuerst mit der Maus die Katzenumrisse. Nach Schätzungen arbeiten Millionen von Menschen in diesem Sektor. Sie haben auch großen Anteil am Erfolg von Chatbots wie ChatGPT, weil ihre Arbeit sicherstellt, dass man von ihnen nicht beleidigt oder mit Gewalt- und pornographischen Inhalten konfrontiert wird.

 

Was heißt das?

Dass Menschen in Nairobi dem Algorithmus beigebracht haben, dass er diese Inhalte ignorieren soll. Sie haben dafür unzählige Seiten Text mit Missbrauchs- oder Gewaltdarstellungen gelesen, Texte über Selbstmorde oder Hinrichtungen, und diese mit den richtigen Metadaten versehen. Die Mitarbeiter*innen sind grundsätzlich bei Outsourcing-Firmen angestellt, die keine Alters- oder Krankenvorsorge bieten und sich auch nicht psychologisch um die Traumata kümmern, die viele aufgrund der Inhalte erlitten haben. Der Stundenlohn lag im Fall von ChatGPT unter zwei Dollar. Dazu gibt es Überwachung und ein hartes Vorgehen gegen jede Form von gewerkschaftlicher Organisation. Das erinnert an die Bedingungen, die wir aus der Content Moderation in den sozialen Medien kennen. Es handelt sich um die gleichen Menschen in den gleichen ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen.

 

Sind die digitalen Kolonialherren besonders smart, weil all das, was Sie gerade beschrieben haben, kaum sichtbar ist?

Auch hier lassen sich durchaus Parallelen zum historischen Kolonialismus der Europäer ziehen. Denn viele Menschen in den Metropolen haben damals zwar von der Ausbeutung profitiert, diese aber nicht zu Gesicht bekommen. Die Konzerne heute arbeiten bewusst daran, den Kolonialismus unsichtbar zu machen – zum Beispiel mit der Überhöhung der derzeitigen Leistungsfähigkeit von KI. Wenn Elon Musk oder OpenAI-Chef Sam Altmann öffentlich darüber philosophieren, dass wir Angst vor den superintelligenten Maschinen haben sollten, dient das vor allem dazu, die menschliche Wirklichkeit dahinter zu verdecken.

 

Die Digitalisierung und die Energiewende werden gern als Entwicklungschance für den Globalen Süden bezeichnet. Wie vehement würden Sie widersprechen?

Sehr vehement, weil wir sehen, dass diese technoutopischen Erzählungen nur dem Zweck dienen, die Menschen hinzuhalten. Neokoloniale Strukturen verunmöglichen eine digitale Aufholjagd des Globalen Südens. Das fängt schon beim Geld an: Unternehmer*- innen in Lateinamerika und Afrika steht kaum Venture-Kapital zur Verfügung. Die großen Tech-Konzerne schützen Ihre Vormachtstellung zudem mit Patenten und Heeren von Jurist*innen. Auch die Ungleichheit bei Infrastrukturen zementiert die Abhängigkeit: Aktuelle Zahlen der Internationalen Fernmeldeunion der Vereinten Nationen zeigen, dass zwar immer mehr Menschen einen Internetzugang haben, es aber weiterhin einen großen Digital Divide zwischen armen und reichen Ländern gibt. Moderne Technologien sind äußerst datenintensiv. Das heißt, man braucht für die großen KI-Modelle Breitbandinternet und Rechenkapazität, das funktioniert nicht mit mobilen Daten. Zudem sind Rechenzentren ebenfalls monopolisiert in den Händen der Big Tech-Konzerne – vor allem Amazon, Microsoft und Google. 

Ein Großteil des weltweiten Kobalts stammt aus der Demokratischen Republik Kongo. Das Land ist zwar eines der rohstoffreichsten überhaupt, die Minen sind aber in der Hand ausländischer Konzerne und Gewalt, Zwangsumsiedlungen sowie Kinderarbeit gut dokumentiert.
Foto: The International Institute for Environment and Development/Wikipedia BY 2.5

Was ist mit der nächsten Entwicklungsstufe – dem Satelliteninternet?

Elon Musk gehören 60 Prozent der Satelliten im Weltall und wir haben gesehen, dass er bereit ist, dieses Monopol politisch zu nutzen, als er der Ukraine mit der Abschaltung von Starlink drohte, wenn sie sich nicht auf Trumps so genannten Friedensplan einlassen. Militäranalysten sagen, ohne Starlink hätten sie den Krieg direkt aufgeben können.

 

Wird nur der Globale Süden ausgebeutet, oder sind die Europäer auch längst digitale Kolonie der USA?

Ich wäre immer zurückhaltend die Metapher auf Europa anzuwenden, denn gerade Deutschland hat seine eigene koloniale Vergangenheit noch nicht wirklich aufgearbeitet. Und dann zu sagen, jetzt sind wir diejenigen, die kolonialisiert werden, halte ich nicht für angemessen. Zumal, wenn wir uns anschauen, wie koloniale Strukturen weiterwirken und Europa mindestens beim Thema Rohstoffe aktiv mitmischt.

 

Abhängigkeit wäre Ihnen als Begriff lieber?

Ja, das sind wir ohne Frage. Aber Europa hat aufgrund der eigenen Wirtschaftsmacht viel bessere Karten als der Globale Süden und ich würde sagen, den attraktivsten Datenmarkt der Welt. Das Problem ist vor allem die Rechtsdurchsetzung gegenüber den US-Konzernen. Hier wird gerade massiv Druck ausgeübt, um eine Regulierung dieser Unternehmen zu verhindern und wir können nur hoffen, dass die Europäische Union nicht einknickt.

 

Was schlagen Sie vor?

Digitale Souveränität ist das Schlagwort der Stunde, sowohl in Europa als auch in den Staaten des Globalen Südens. Warum also sollten nicht beide als Partner auf Augenhöhe genau daran arbeiten.

 

 

Die frühere Facebook-Mitarbeiterin und Whistleblowerin Frances Haugen hat öffentlich gemacht, dass Meta-Gründer Mark Zuckerberg das Unternehmen persönlich angewiesen hat, sich den Zensurwünschen Vietnams zu beugen.
Foto: Ekō/Wikipedi BY 2.0

Wäre das eine Chance für mehr Gerechtigkeit und Unabhängigkeit von den USA und China?

Unbedingt.

 

Wer ist jetzt eigentlich gefragt? Die Politik oder sind es wir mit unserem individuellen Handeln und Konsumverhalten?

Wir sollten das eine tun und das andere nicht lassen. Es braucht politische Lösungen, Stichwort Lieferkettengesetz. Dieses müsste eigentlich ausgebaut werden, aber der vermeintliche Nachhaltigkeitskurs der letzten Jahre steht derzeit sehr unter Druck, weil Europa auf geopolitische Stärke und den Ausbau der Industrie und des Rüstungssektors setzt. Und natürlich können wir auch selbst einiges tun: Zum Beispiel nicht alle zwei Jahre ein neues Handy kaufen, Dienste wie X oder Facebook nicht mehr nutzen. Und wir können uns mit den Klickarbeiter*innen solidarisch zeigen, an Organisationen spenden, die sie selbst gegründet haben oder die sie unterstützen.

 

Gab es während der Recherche für das Buch auch Momente der Hoffnung?

Auf jeden Fall. Wir haben gesehen, wie sich Datenarbeiter*innen organisieren. In Kenia gibt es ein wichtiges Gerichtsverfahren, in dem knapp 200 Content Moderator*innen Meta und dessen Outsourcingfirma Sama wegen der traumatisierenden Arbeitsbedingungen verklagen.

 

Und?

Das Gericht hat jetzt erst einmal ent- schieden, dass das Verfahren überhaupt in Kenia stattfinden darf, sie also die Jurisdiktion besitzen. Und wenn die Richter*innen der Argumentation der Kläger*innen folgen, könnte das gravierende Folgen weltweit haben. Dann wäre nämlich klar, dass große Konzerne ihre Verantwortung nicht an Subunternehmen delegieren können. Diese Kämpfe gibt es überall, geführt auch von den indigenen Bewegungen in Lateinamerika, wo das Lithium abgebaut wird. Das sollte uns Vorbild sein, auch hier in Europa unseren Teil zu leisten.


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