Blick auf Al Hol, das Internierungslager für IS-Angehörige in Nordostsyrien. Foto: Michael Wilk

 

Seit über zehn Jahren unterstützt Michael Wilk in Nordostsyrien immer wieder ehrenamtlich die dort lebenden Kurd*innen: mit Spenden, Öffentlichkeitsarbeit und am Operationstisch. Wir haben mit dem Arzt und anarchistischen Autor gesprochen – über staatlichen Terror, der das Leben verunmöglichen soll, die deutsche Nibelungentreue gegenüber der Türkei und den Föderalismus als Chance für Frieden in Syrien …

Von Holger Isermann

 

Herr Wilk, wenn wir in Deutschland über Infrastruktur reden, drehen sich die Gespräche häufig um die unpünktliche Bahn oder fehlende Erzieher*innen in der KITA. Wie sieht dagegen die Situation in Nordostsyrien aus? Welche Infrastrukturen fehlen am meisten?

Wenn wir von Nordostsyrien sprechen, dann von einem de facto autonomen Gebiet unter der Selbstverwaltung der AANES (Democratic Autonomous Administration of North and East Syria), das noch immer Kriegsgebiet ist. Es gibt regelmäßig Luftangriffe der türkischen Armee auf die Infrastruktur: Umspann- oder Wasserwerke, Erdölraffinerien, medizinische Einrichtungen. Außerdem wird der Wasserstand des Euphrat von der Türkei bewusst niedrig reguliert. Das alles geschieht, um die Selbstverwaltung politisch und ökonomisch unter Druck zu setzen.

 

Das heißt, die Türkei staut den Fluss, damit weniger Wasser in Nordostsyrien ankommt?

Genau. Mit dem Ergebnis, dass die Kraftwerke an den Staudämmen nicht mehr funktionieren und wir beispielsweise ein erhebliches Wasserversorgungsproblem in der Region Hasaka haben. Weil die Menschen in ihrer Not vermehrt ungereinigtes Oberflächenwasser trinken, nehmen Erkrankungen zu. Die Angriffe erfolgen aber nicht nur auf die Infrastruktur. Auf meiner letzten Reise hat mich ein ARD-Team begleitet und in dem Beitrag wird auch die Geschichte einer zehnköpfigen Bauernfamilie aus Kobane erzählt, die gezielt bombardiert wurde. Nur ein Mädchen hat überlebt. Das sind klare Kriegs- und Menschenrechtsverletzungen.

 

Die gezielten Angriffe treffen auf ein ohnehin lange vom Krieg gebeuteltes Land …

Ja, ich bin seit 2014 immer wieder vor Ort und damals gab es noch die massiven Auseinandersetzungen mit dem IS, die eine große Zerstörung hinterlassen haben. In weiten Teilen des Landes hören Sie zum Beispiel Dieselgeneratoren, welche die Luft verschmutzen. Aber es gab zwischenzeitlich gewaltige Wiederaufbauanstrengungen, sodass etwa die Stadt Kobane in großem Maße intakt ist. Und es ist besonders frustrierend, dass das Erdogan-Regime ganz bewusst frisch wiederhergestellt Infrastruktur erneut zerstört. Das ist eine perfide demoralisierende Strategie. Man schafft eine permanente Bedrohungslage …
 

 

Michael Wilk (Mitte) in Rojava
im Mai dieses Jahres. Foto: Michael Wilk

… welche die Menschen belastet?

Natürlich. Das macht etwas mit der Gefühlswelt und löst auch Fluchtbewegungen aus. Vergessen dürfen wir in diesem Zusammenhang nicht die Invasionen der Türkei – die erste im Jahr 2016 mit dem Namen Operation Euphrates Shield. Dadurch wurden Hundertausende Menschen in die Flucht getrieben, die dann andernorts wieder Druck auf die Infrastruktur ausüben. Zuletzt konnten wir das beobachten, als die SNA-Miliz gesteuert von der Türkei die Stadt Minbic erobert hat. Das sind vor allem ehemalige al-Qaida-Kämpfer, die oft heute noch ihre IS-Zeichen an der Uniform tragen. Ich war damals vor Ort, als die Kurden die Stadt unter hohem Blutzoll von eben jenem IS befreit haben. Jeder vernünftige Mensch geht irgendwann, wenn er keine Zukunft mehr für sich und seine Kinder in einem Land sieht.

 

In dem von Ihnen genannten ARD- Beitrag sprechen Sie von staatlichem Terror, der das zivile Leben verunmöglichen soll …

Der Satz fasst exakt die Strategie des Erdogan-Regimes zusammen. Natürlich könnte die türkische Armee auch Flächenbombardements durchführen, aber dieser unterschwellige dauerhafte Terror kostet weniger und wird in der internationalen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen.

 

Die kapitalistische Logik des Krieges?

Das können Sie in fast jedem Konflikt beobachten. Ich war Ende der 1980er Jahre in Salvador und habe Vergleichbares dort im Kriegsgebiet erlebt. Wer gezielt wichtige Knotenpunkte der Infrastruktur zerstört, agiert kostensparend und richtet möglichst wenige Folgeschäden an. Das ist ja nicht unbedeutend, gerade wenn der Aggressor das Ziel hat, ein Gebiet vielleicht später zu besetzen. Euphemistisch wird das gern als chirurgisches Vorgehen beschönigt.

 

Der Zugang zur Infrastruktur bedeutet damit Macht, oder?

Definitiv. Deshalb lässt die Türkei in den faktisch annektierten Gebieten, wie Afrin, ja auch eigene Poststationen und Schulen betreiben. Morgens müssen die Kinder zum Fahnenappell erscheinen und dem türkischen Staat huldigen. Ordnungsmacht ist die SNA-Miliz, die dort ein Terrorregime aufrechterhält. Es gibt sexualisierte Gewalt und Entführungen mit Lösegeldforderungen. Das sind die Bedingungen, unter denen die Menschen dort leben müssen.

 

Was ist das Ziel der Türkei?


Erdogan will die zentralistisch ausgerichtete Einheitsregierung von Al-Scharaa stützen, weil ihm das deutlich mehr Einfluss in Syrien sichert, als es in einem föderalistischen Staat mit vielen teilautonomen Gebieten möglich wäre. Deshalb sind ihm die Freiheitsbemühungen ein Dorn im Auge und er bekämpft sie, wo er nur kann.
 

Wie blicken Sie auf diese aktuelle Regierung Syriens?

Es ist ein Unglück für Syrien, dass ausgerechnet frühere IS-Terroristen den Ruhm für die Zerschlagung des diktatorischen  Assad-Regimes davontragen. Denn das führt gerade zur Reetablierung eines neuen totalitären Islamismus, der die Freiheit, die vielerorts hart erkämpft wurde, wieder einschränken wird: Die Frage, wie Frauen oder Kinder sich bewegen können, welche Musik gespielt wird, ob Freude im gesellschaftlichen Miteinander möglich ist. Ich habe noch die Käfige gesehen, in denen Frauen verbrannt wurden, die sich nicht an Vorschriften hielten und IS- oder al-Qaida-Kämpfer erlebt, die sich auf dem Krankenbett nicht von Frauen versorgen lassen wollten und starben …

 

 

In Nordostsyrien wird Gleichberechtigung als ein zentrales Element der Gesellschaftsstruktur angesehen und aktiv gefördert. So kämpften etwa auch viele Frauen in den Frauenverteidigungseinheiten gegen den IS.
Foto: Kurdishstruggle/Wikipedia BY 2.0

Warum haben westliche Politiker Al-Scharaa mit Besuchen und Treffen politisch etabliert?

Ich unterstelle diesen Leuten keine Naivität. Das Ziel der europäischen und US-amerikanischen Außenpolitik war vor allem, Assad zu stürzen und den Einfluss des Iran zu brechen. Damit gibt man sich zufrieden und nimmt in Kauf, dass die Islamisten sich an der Macht etablieren. Das ist eine Katstrophe. Dafür sind die Menschen hier in Nordostsyrien nicht gestorben.

 

Wie erklären Sie sich die ausbleibende Kritik an den Menschenrechtsverletzungen der Türkei?

Das ist nur durch die deutsche Nibelungentreue zu erklären. Erdogan und sein ultra-totalitäres Präsidialregime haben eine Art Türsteherfunktion bei der Flüchtlingsregulation, außerdem leben viele Türken in Deutschland und man möchte hier Verwerfungen vermeiden. Nicht zu vergessen, dass die Türkei die zweitgrößte Armee der NATO unterhält. Deutsche Politiker wissen, was in Nordostsyrien vor sich geht, aber es wird aus politischem Kalkül ignoriert. Wir erleben hier einen Pragmatismus mitteleuropäischer Art, der an Machtinteressen und Einflusszonen ausgerichtet ist, und nicht an Menschenrechten.

 

Würden Sie dies auch über die Situation in Gaza sagen?

 
Hier müssen wir zwangsläufig über die Shoa reden. Daraus resultiert unsere Verantwortung, dass sich Geschichte nicht wiederholt. Allerdings glaube ich, dass man mit der blinden Unterstützung der ultrarechten israelischen Regierung dem jüdischen Leben weltweit momentan einen Bärendienst erweist. Warum fällt es uns so schwer, Menschenrechtsverletzungen zu benennen, wenn sie auftreten – und zwar völlig unabhängig davon, wer sie begeht?
 

Durch einen Drohnenangriff ausgelöscht: die Gräber von Narins sieben Geschwistern und ihren Eltern bei Kobane.
Foto: SWR/Matthias Ebert

Gute Frage!

Ich war gerade in Syrien, als die Hamas Israel überfallen hat, und habe Ekel wie Abscheu ob des Abschlachtens und der Vergewaltigungen empfunden. Mein syrisches Umfeld hat sofort gesagt, dass sich die Hamas wie der IS verhält. Auch in meinen Augen ist das eine Terrororganisation, aber man kann nicht Abertausende für deren Verbrechen in Geiselhaft nehmen, sie einsperren und ihre Lebensmittel verknappen. Gleichzeitig dürfen wir die Netanyahu-Regierung nicht mit dem jüdischen Leben gleichsetzen. Es gibt nicht die Juden, das ist ein Antisemitismus, der sich gerade Bahn bricht, und es ist ein Alptraum, dass wieder Menschen angegriffen werden, weil sie eine Kippa tragen.

 

Was schlagen Sie vor?

Ich würde mir wünschen, dass es der palästinensischen Bevölkerung gelingt, sich von der terroristischen Hamas zu befreien, und dass die Menschen in Israel ihre ultrarechte und kriegerische Regierung abwählen. Das gleiche gilt übrigens für die Türkei. Ich kann nur hoffen, dass der innerstaatliche Protest dort weiter zunimmt. Erdogan tut alles, um sein totalitäres Regime aufrechtzuerhalten, und die Bundesrepublik wäre gut beraten, zu erkennen, dass sie derzeit einen Präsidenten unterstützt, der nicht mehrheitsfähig ist und sein eigenes Volk unterdrückt.

 

Im ARD-Beitrag zu Ihrer letzten Syrien-Reise wurden auch ein Gefängnis gezeigt, in dem ehemalige IS-Kämpfer inhaftiert sind, und ein Lager für deren Familien. Demnach würde die nachlassende Unterstützung, etwa durch die USA, Einrichtungen wie diese in Frage stellen. Wie schätzen Sie die Situation ein?

Vorab möchte ich sagen, dass ich kein blauäugiger Anhänger von US-amerikanischer Außenpolitik bin, die immer wieder in der Geschichte klassisch imperiale und machtorientierte Züge trug. Auf der anderen Seite gab es beispielsweise die Zerschlagung des deutschen Naziregimes, das heißt auch hier ist Differenzierung angebracht und in Nordostsyrien hat sich tatsächlich eine interessante Koalition aus den kurdischen Selbstverteidigungseinheiten YPG und der US-Armee ergeben. Das findet jetzt zunehmend ein Ende, weil Trump US-Truppen und Gelder überall abziehen will, so es den USA nicht direkt nützt. In dem Zusammenhang ist auch die radikale Beendigung von US AID zu sehen. In Nordostsyrien musste der Kurdische Rote Halbmond, mit dem ich zusammenarbeite, beispielsweise fast 50 Prozent des Personals entlassen.

 

Und auf dem militärischen Sektor?

Dort sah es zunächst ähnlich aus, aber teilweise gibt es den Eindruck, dass das wieder etwas revidiert wurde, weil die vor Ort befindlichen Militärkommandanten klargemacht haben, dass die Situation dann kippen und der IS und andere terroristische Gruppen wieder erstarken könnten.
 

Deutsche Nibelungentreue zur Türkei? Im Januar 2020 eröffnen die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan die Türkisch-Deutsche Universität in Istanbul.
Foto: Sahinkara43/Wikipedia BY-SA 4.0

Wo sehen Sie die Chance für eine friedliche Zukunft in Syrien? In einem föderalen System, das den verschiedenen Kulturen und Minderheiten möglichst viel Autonomie gewährt?

Das erscheint alternativlos und diese Erkenntnis müsste sich mittlerweile eigentlich auch politisch durchgesetzt haben. Und natürlich wäre man in der Lage, entsprechende Forderungen an Al-Scharaa zu stellen, wenn man schon einen früheren al-Qaida- und Al-Nusra-Terroristen als Übergangspräsidenten akzeptiert, der sich zwar weichgespült und kreidefressend gibt, aber zugleich seit der Machtergreifung für zahlreiche Tote verantwortlich ist oder sie zumindest nicht verhindern konnte: Ob bei den Racheaktionen gegen die Alawiten im Westen oder den Angriffen gegen die Drusen im Süden.

 

Wie sollen diese Forderungen durchgesetzt werden?

Die Übergangsregierung ist von der internationalen Unterstützung und dem Cashflow abhängig, und das könnte man nutzen, um Al-Scharaa einen engen Handlungskorridor zu stecken.

 

Was können Menschen tun, die sich engagieren wollen?

Menschen, die solidarisch sind, können weiter versuchen, direkte Hilfe zu organisieren, aber auch den politischen Druck hierzulande aufrechtzuerhalten. Es müssen jetzt auch Fördergelder für die Unterstützung der Menschen in Nordostsyrien fließen. Und es wäre ein guter Schritt in Richtung Selbstverwaltung, wenn Förderprogramme nicht über Damaskus laufen, sondern direkt in den einzelnen Regionen ankommen. So würde man Fakten und politisch eine Grundlage für ein föderales System schaffen und außerdem dem Nepotismus der Zentralregierung vorbeugen.
 

 

 


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