Sterben, um zu leben
Die Lage der Guaraní
von Sabrina Marie Rommerskirchen
„Das Land hier ist mein Leben. Meine Seele. Wenn du mir das nimmst, nimmst du mir mein Leben“, klagte der Guaraní Marcos Veron der Menschenrechtsorganisation Survival International 2010 in einem Interview. Die Guaraní sind mit etwa 51.000 Angehörigen das größte indigene Volk Brasiliens. Sie hofften, dass die Fußball-Weltmeisterschaft und die bevorstehenden Olympischen Spiele die Aufmerksamkeit auf die Not der indigenen Gemeinden in Brasilien lenken. Und dass die brasilianische Regierung endlich notwendige Schutzmaßnahmen beschließen würde. Doch sie wurden enttäuscht. Brasilien versuchte in den Sommermonaten 2014 nur, sich als ein Staat zu präsentieren, der die Rechte der Indianer groß schreibt. Konkret änderte sich für die Indigenen jedoch nichts. Bei den Guaraní ist die Selbstmordrate so hoch wie bei keinem anderen indigenen Volk des südamerikanischen Landes. Nach Angaben von Survival International nahmen sich zwischen 1986 und 1997 244 Guaraní das Leben. Allein 72 Suizide meist junger Leute zwischen 15 und 30 Jahren gab es im Jahr 2013. Es ist ihre Form eines nahezu aussichtslosen Protests. Diese Verzweiflungsakte haben die Guaraní und ihre Situation in den vergangenen Jahren weltweit bekannt werden lassen: Profitgierige Großgrundbesitzer haben das Land der Indianer in Beschlag genommen. Deshalb campieren viele Guaraní neben viel befahrenen Straßen ohne sauberes Wasser, ohne ausreichend Nahrung, ohne medizinische Versorgung, ohne die Möglichkeit, Traditionen zu pflegen und Zeremonien abzuhalten, was ihrem Glauben nach nur auf dem Land ihrer Vorfahren möglich ist. Die Verdrängung der Guaraní aus ihren ursprünglichen Territorien begann bereits kurz nach dem Tripel-Allianz-Krieg (1864-1870), in dem Paraguay gegen die verbündeten Staaten Argentinien, Brasilien und Uruguay kämpfte. Schon damals wurden die Guaraní rücksichtslos von ihrem Land vertrieben, um es landwirtschaftlich zu nutzen. Besonders im Bundesstaat Mato Grosso do Sul prägen heute Monokulturen von unvorstellbarer Größe das Landschaftsbild. Die Wälder wurden weitgehend gerodet, um Mate, Soja und Zuckerrohr anzubauen. Ohne Wald können die Guarani ihre traditionelle Lebensweise nicht pflegen. Sie sind keine Nomaden, sondern leben von der Jagd, vom Fischen und allem, was der Wald ihnen bietet. Immer wieder versuchen Guaraní, sich wieder auf ihrem traditionellen Land niederzulassen, das jetzt offiziell Farmern gehört. Die Antwort der Viehzüchter und Plantagenbesitzer ist in aller Regel skrupellose Gewalt. Nicht selten schießen sie einfach auf die Guaraní, wenn sie es wagen, sich auf ihren Flächen zu zeigen. Häufig steckt die Polizei mit den Farmern unter einer Decke. Den Guaraní sind nur kleine unzusammenhängende Territorien geblieben. So drangen sich im Reservat Terra Indígena Dourados in Mato Grosso do Sul mehr als 12.000 Guaraní auf 35 Quadratkilometern, das entspricht rund 340 Einwohnern pro Quadratkilometer. Viele Guaraní sind dazu gezwungen, in Dörfern weit entfernt von ihrem traditionellen Territorium zu leben. Zurzeit liegen zwar mehrere Gesetzesentwürfe vor, die Gebiete der Guaraní zu demarkieren - das heißt, die Grenzen offiziell festzulegen – allerdings zu ihren Ungunsten. Sollten die Gesetze wirksam werden, werden die Indianer noch mehr Land verlieren. Was wird ihnen dann noch bleiben?
„Wir können nicht länger tatenlos zusehen. Vielleicht ist dies das letzte Mal, dass wir unsere Stimme erheben… Aber wir dürfen keine Angst haben. Denn wir sind in unserem Land. Wir sind auf unserem Grund und Boden. Unsere Väter wurden hier geboren, hier leben sie. Wir können gar nicht sagen, wie lange schon, die Geschichte unseres Volkes ist sehr alt. Deshalb müssen wir unsere Stimme erheben“, ruft der Guaraní Marcal Tupa zum Widerstand auf.
Weil viele Guaraní ihre traditionelle Lebensweise aufgeben mussten und sich deshalb auch nicht mehr selbst versorgen können, müssen sie auf Plantagen arbeiten – zumeist unter sklavereiähnlichen Bedingungen. Bei minimaler Bezahlung müssen in bis zu zwölf Stunden täglich mehrere Tonnen Zuckerrohr geschnitten werden. Dabei kommen die Arbeiter direkt mit gesundheitsschädlichen Spritzmitteln in Kontakt, die ausgebracht werden, um das Wachstum des Zuckerrohrs zu beschleunigen. Die Zuckerrohr verarbeitenden Fabriken bieten ihren Arbeitern selten Mahlzeiten, Unterkunft oder medizinische Versorgung an. Ein Plantagenarbeiter hält durchschnittlich 15 Jahre durch. Das brasilianische Gesetz sieht zwar eine Gefängnisstrafe von zwei bis acht Jahren vor, wenn Fabrik- und Plantagenbesitzer ihre Angestellten unter unsäglichen Bedingungen arbeiten lassen. Bisher ist es jedoch noch zu keiner Verurteilung mit Freiheitsentzug gekommen. Viele kommen mit einer Geldstrafe davon. Dies alles mag die Verzweiflung der Guaraní und die hohe Selbstmordrate erklären. Vor allem für die jüngere Generation scheint es aussichtslos darauf zu warten, dass ihre Rechte anerkannt werden. Doch wie lange wird dies noch weitergehen? Wie viele Guaraní werden sich noch das Leben nehmen, bis die Regierung endlich handelt? Der Guaraní-Kaiowá Anastacio Peralta zumindest ist pessimistisch: „Das Volk der Guaraní war wie ein Fluss, der langsam in seinen Bahnen floss, als ein riesiger Fels ins Flussbett geworfen wurde und ihn in alle Richtungen trieb.“
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