18.06.2005

Die diesjährigen Preisträger des Victor-Gollancz-Menschenrechtspreises

Oleg Orlow (Memorial) und José Eden Pereira ( CIMI ), Foto: Katja Wolff, GfbV

Göttingen

Conselho Indigenista Missionário (CIMI) / Brasilien

"CIMI ist unser Sprachrohr in der Öffentlichkeit und macht unsere menschenunwürdige Situation auch außerhalb von Lateinamerika bekannt. Für die Durchsetzung unserer Rechte brauchen wir internationale Unterstützung und Solidarität."

Euclides Pereira vom Volk der Makuxi /Bundesstaat Roraima

Der brasilianische Indianermissionsrat CIMI (Conselho Indigenista Missionário) wird 2009 mit dem Victor-Gollancz-Preis der Gesellschaft für bedrohte Völker ausgezeichnet, weil er sich seit mehr als 30 Jahren unerschrocken für das Recht der indigenen Völker auf eigenes Land, eigene Kultur, Religion und Lebensweise einsetzt, die Ureinwohner in vorbildlicher Hinwendung als gleichberechtigte Partner anerkennt und ihre Interessen gegen Behörden, Großgrundbesitzer, Konzerne, Goldgräber und die Holzmafia verteidigt.

José Eden Pereira Magalhães (48) setzt sich als Mitglied von CIMI seit 24 Jahren für die Rechte der indigenen Völker Brasiliens ein. Der Sozialwissenschaftler arbeitete ab 1986 mit indianischen Gemeinschaften in den Bundesstaaten Amazonas, Mato Grosso und Acre. Ende der 1980-er Jahre wurde er zum Koordinator der Regionalgruppe Westamazonien des CIMI gewählt. Seit 2003 ist er Generalsekretär des Nationalen Sekretariats von CIMI, das seinen Sitz in der Hauptstadt Brasilia hat.

CIMI steht für ein Verständnis, das geprägt ist von tiefem Respekt vor indigenen Gemeinschaften. Seine Mitarbeiter scheuen keine Strapazen, sich persönlich ein Bild von den Problemen indigener Völker auch mitten im unzugänglichen Amazonasgebiet zu machen. Sie notieren Klagen der Indianer über Eindringlinge, dokumentieren Landrechtsverletzungen, entwerfen zusammen mit Betroffenen Strategien des Widerstandes, treten bei Behörden oder in politischen Gremien als ihr Anwalt auf und suchen weltweit Verbündete für die Ureinwohner.

Dabei gehen die CIMI-Mitarbeiter ein hohes Risiko ein. Denn wer öffentlich korrupte Politiker, Mafiabosse, Landdiebe und Auftragsmörder anklagt, macht sich Feinde. Der derzeitige Präsident des CIMI, der 70 Jahre alte Bischof von Xingu Erwin Kräutler, wurde 2007 bei einem Attentat schwer verletzt. Die Bischofskonferenz Brasiliens besitzt eine Liste mit 160 Kirchenvertretern, die auf einer Todesliste der Mafia aus Großfarmern und Holzunternehmen stehen.

CIMI - Partner der indigenen Völker

Der CIMI wurde 1972 von der Brasilianischen Bischofskonferenz gegründet. Der Staat propagierte damals die Integration bzw. Assimilation der indigenen Völker in die sie umgebende Gesellschaft. CIMI dagegen achtete die Andersartigkeit der indigenen Völker, ihre ethnisch-kulturelle und historische Vielfalt sowie ihr traditionelles Wissen und förderte von Anfang an den Dialog mit ihnen.

In der von Befreiungstheologen getragenen Organisation arbeiten heute mehr als 300 Laien, Ordensleute und Priester. CIMI warnte frühzeitig vor den Gefahren einer wirtschaftlichen Entwicklung Brasiliens, die auf die Bedürfnisse der heute rund 735.000 Ureinwohner keine Rücksicht nimmt. In seiner XI. Nationalen Versammlung etwa hielt der CIMI 1995 fest: "Im Glauben an das Evangelium des Lebens, der Gerechtigkeit und Solidarität und angesichts der gefährdenden Auswirkungen des neoliberalen Modells wollen wir unsere Unterstützung für die indigenen Gemeinschaften, Völker und Organisationen verstärken, als ihr Partner gegenüber der brasilianischen Gesellschaft auftreten und den Prozess der Autonomie dieser Völker fördern, um ein alternatives, pluriethnisches und demokratisches Projekt aufzubauen."

Land, Gesundheit, Schule und Selbstversorgung

Der CIMI unterstützt vorrangig die Anstrengungen der indigenen Völker bei der Wiedererlangung, Demarkierung und rechtlichen Absicherung ihrer Territorien. Denn das Land ist für die Ureinwohner die Grundlage des Lebens, der Kultur und der Selbstversorgung. CIMI tritt für den Schutz der Gebiete auch jener indigenen Völker ein, die in selbst gewählter Isolation leben. Als Partner der indigenen Bewegungen bietet CIMI Informationen, bringt Diskussionsvorschläge ein, unterstützt Initiativen, schließt Bündnisse mit nationalen und internationalen Organisationen, die die Autonomie der indigenen Völker fördern.

Gegenwärtige Arbeitsschwerpunkte

  • Unterstützung des Überlebenskampfes der Guarani, insbesondere der 40.000 Guarani aus dem Bundesstaat Mato Grosso do Sul, die auf kleinsten Flächen oder auch am Straßenrand in großem Elend leben. Sie leiden unter Armut, Diskriminierung, Bedrohungen und Ausbeutung als Tagelöhner in den Zuckerrohrplantagen. Ihr Alltag ist geprägt von Gewalt, hoher Suizidrate und Unterernährung der Kinder. Ihr angestammtes Land wird heute zumeist für den Anbau von Soja, Zuckerrohr und für die Viehzucht genutzt. Landrechtsverfahren haben zwar begonnen, verlaufen aber viel zu schleppend. Ihre Kampagne "Das Volk der Guarani - ein großes Volk" (Povo Guarani - Grande Povo) wird vom CIMI (und in Deutschland von der GfbV) mitgetragen.

  • Kampf gegen gigantische Infrastrukturprojekte, die sich auf die Gebiete indigener Völker, darunter auch so genannte "isolierte" Völker, auswirken und ihr Überleben bedrohen. Im Augenblick konzentriert sich dieser Widerstand besonders auf die Ableitung des Rio São Francisco (Transposicão) in Nordostbrasilien, von der viele indianische und afro-brasilianische Gemeinden betroffen sind, und den Bau des Staudamms und Wasserkraftwerkes Belo Monte am Rio Xingú im Bundesstaat Pará.

  • Widerstand gegen die Kriminalisierung indigener Anführer in Brasilien; derzeit bedeutendste Fälle betreffen die Xukuru (Pernambuco), die Guarani Kaiowá (Mato Grosso do Sul) und die Tupinambá, Pataxó und Pataxó Hã Hã Hãe (südliches Bahia).

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    José Eden Pereira , CIMI-Generalsekretär (Brasilia) (Foto: Katja Wolff, GfbV)

    Memorial / Russland

    Die Gesellschaft für bedrohte Völker verleiht ihren Victor-Gollanz-Preis 2009 an die russische Menschenrechtsorganisation MEMORIAL als "Verneigung vor dem beispiellosen Mut ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die für ihr aufopferungsvolles Menschenrechtsengagement in einer feindlich gesinnten Umgebung täglich ihr Leben riskieren".

    Der Memorial-Vorsitzende Oleg Orlow, der den Preis entgegennimmt, wurde am 6. Oktober 2009 in Moskau wegen "Verleumdung und Beleidigung der Ehre und Würde" des tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow, der in der Kaukasusrepublik ein Terrorregime führt, zu einer Geldstrafe verurteilt. Das Gericht untersagte dem Menschenrechtler, seine Behauptung zu wiederholen, Kadyrow sei der Drahtzieher hinter dem Mord an der tschetschenischen Menschenrechtsaktivistin und MEMORIAL-Mitarbeiterin Natalja Estemirowa. Orlow selbst war im November 2007 gemeinsam mit drei Journalisten in Inguschetien entführt, geschlagen und mit dem Tode bedroht worden.

    MEMORIAL wurde während der Perestroika 1988 von einer Gruppe von Intellektuellen und ehemaligen Dissidenten in Moskau gegründet. Der Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow war ihr erster Vorsitzender. 1992 wandelte sich die Menschenrechtsorganisation von einer "Allunionsgesellschaft" zu einer internationalen Gesellschaft. Gleichzeitig wurde die Russische Gesellschaft MEMORIAL gegründet. Heute besteht MEMORIAL aus 80 unabhängigen Organisationen in Russland, der Ukraine, in Kasachstan, Moldawien, Armenien und Georgien. MEMORIAL gibt es auch in Polen und Deutschland.

    MEMORIAL widmet sich sowohl der Bewältigung der stalinistischen Vergangenheit als auch der Recherche, Dokumentation und Veröffentlichung gegenwärtiger Menschenrechtsverletzungen u.a. in Tschetschenien und Inguschetien. Mitarbeiter werden deshalb immer wieder mit dem Tod bedroht. Auch die beiden Mordopfer Anna Politkowskaja und Natalja Estemirowa arbeiteten für MEMORIAL.

    Grundlage für das Handeln der Menschenrechtsorganisation sind folgende beiden Prinzipien:

  • Die bedingungslose Achtung vor der menschlichen Persönlichkeit und die Anerkennung des Lebens und der Freiheit als grundlegende gesellschaftliche Werte

  • Die Vorstellung von der Geschichte als untrennbare Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

    MEMORIAL hat sich fünf großen Arbeitsschwerpunkte gesetzt:

  • Historische Aufarbeitung und Gedenken

    MEMORIAL sammelt, archiviert und veröffentlicht Materialien über den Stalinismus in Russland. Die Organisation setzt sich dafür ein, dass Gedenktafeln und –steine an Orten der stalinistischen Verbrechen errichtet werden. Die Suche und der Erhalt der Gräber von Opfern des Stalinismus ist eine wichtige Voraussetzung für das Gedenken an diese Menschen. Auf dem Gelände des letzten politischen Lagers der UdSSR ("Perm-36" genannt) nahe der Stadt Tschussow im Raum Perm wurde ein einzigartiges Museum zur Geschichte der politischen Repressionen und des Totalitarismus eingerichtet.

  • Rehabilitierung der Opfer

    1991 wurde das Gesetz über die Rehabilitierung der Opfer politischer Repression erlassen. Auf seiner Grundlage sollen Zehntausende Überlebende und Hunderttausende bereits Verstorbene ihre bürgerliche Ehre zurückerhalten. MEMORIAL hat es sich zur Aufgabe gemacht, dieses Gesetz zu verbessern, zu ergänzen und seine konsequente Umsetzung zu fordern.

  • Forschung

    MEMORIAL hat in Moskau, St. Petersburg und anderen Städten spezielle Forschungs- und Aufklärungszentren eingerichtet. Hier wird recherchiert, publiziert, hier werden Radiosendungen und Ausstellungen organisiert. Neben der Aufarbeitung der Vergangenheit beschäftigen sich die Mitarbeiter mit den derzeitigen Verletzungen der Menschen- und Bürgerrechte in Russland und der GUS. Ein Schwerpunkt ist die Auswertung von Quellen, die bislang unzugänglich waren, zum Beispiel über die Gulags, die Geschichte der Geheimdienste, zu Statistiken über die politische Repression in der UdSSR sowie zu Widerstand in der Chrustschow und Breschnew-Ära.

  • Soziale Fürsorge

    In den einzelnen Regionen Russlands haben sich ehemalige Gefangene politischer Lager zusammengeschlossen. Diese Vereinigungen umfassen einige Zehntausend direkte und indirekte Opfer politischer Repressionen. MEMORIAL unterstützt diese Selbstorganisationen juristisch, materiell und medizinisch.

  • Menschenrechte

    MEMORIAL ist die renommierteste Menschenrechtsorganisation auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Sie informiert täglich über Menschenrechtsverletzungen und ist so zur wichtigsten Quelle auf diesem Gebiet für internationale Organisationen wie die UN, OSZE, den Europarat und das Europäische Parlament geworden. MEMORIAL führt sorgfältige Recherchen in den Brennpunktgebieten wie den Republiken des Nordkaukasus durch. Ein besonderer Verdienst sind die faktenreichen jährlichen Berichte zur Situation von Flüchtlingen und so genannten Zwangsumsiedlern aus den Krisengebieten in die Russische Föderation, die von den Innenministerien wie den Gerichten auch der europäischen Staaten, in denen zum Beispiel Tschetschenen aufgenommen werden, rezipiert werden. Auch die juristische Beratung für Flüchtlinge in vielen Städten Russlands ist für diese von großer Bedeutung. Der Schutz von politischern Gefangenern und Engagement gegen die Diskriminierung aus ethnischen Gründen sind weitere Arbeitsschwerpunkte. Um die russische Öffentlichkeit auf diese Missstände aufmerksam zu machen, führt MEMORIAL Protestaktionen, Konferenzen, und Mahnwachen durch.

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    Oleg Orlow, Vorsitzender von MEMORIAL (Moskau) (Foto: Katja Wolff, GfbV)