13.06.2005

Die Inuit

Als Esquimantsik (Rohfleischfresser) bezeichneten die Athabaska-Indianer geringschätzig ihre nördlichen Nachbarn. Die Europäer Übernahmen die beleidigende Bezeichnung und verkürzten sie zu "Eskimo". Die Menschen der Arktis nennen sich jedoch Inuit, in der Einzahl Inuk, was schlicht "der Mensch" bzw. "das Volk" bedeutet. Aufgrund archäologischer Funde ist davon auszugehen, daß sich im Gebiet der Bering-Straße um etwa 1000 v. Chr. die Thule-Kultur entwickelte, aus der die Inuit-Kultur entstand.

Der Lebensraum der Inuit ist die Arktis; d.h. Alaska, der Norden Kanadas, Sibirien und Grönland. In Grönland leben ca. 45.000 Inuit, in Alaska und Kanada je 32.000 und einige Tausend in Sibirien (Eigenname: Yuit). Obwohl die Entfernungen zwischen den Gebieten teilweise mehr als 5.000 km Luftlinie betragen, weisen die Inuit überall eine ähnliche Sprache und Kultur auf. Eine Ausnahme bilden die Inuit Südalaskas und der Alëuten, die Elemente der indianischen Nordwestküsten-Kultur übernommen haben.

Der arktische Lebensraum erscheint den meisten Europäern unwirtlich: Stürme, unerbittlicher Dauerfrost und lange Wintermonate im Dunkeln. Die Inuit haben sich an diese Herausforderung angepaßt. Entbehrungen und das Bewußtsein der Abhängigkeit von der Natur prägen ihre Kultur und ihr Sozialsystem. Alle Inuit jagten traditionell Seesäuger und betrieben Fischfang. Mit Kajaks fuhren sie zur Jagd, erlegten Robben, Walrösser und auch Wale. Das Töten der Tiere, das Zerlegen der Beute, erfolgte nach strengen Riten. Jagen gingen die Männer. Um Kleidung und Weiterverarbeitung der Jagdbeute kümmerten sich die Frauen. Allerdings: "Ein Mann ist immer der Jäger, den die Frau aus ihm macht", so ein Inuit-Sprichwort - denn ohne warmhaltende Kleidung keine Jagd, ohne Jagd kein Überleben. Partnertausch und Polygamie (Vielehe) waren verbreitet.

Inuit auf Grönland

Vor 3.000 Jahren besiedelten die ersten Inuit Grönland. Sie kamen von Sibirien über die Beringstraße und von Nordamerika. Von den Wikingern übernahmen die Inuit das Eisen für Töpfe, Messer und Harpunenspitzen. 1721 erklärte Dänemark das Land der Inuit zur Kolonie. Anfang des 17. Jahrhunderts hatten Walfangflotten das Meer vor Grönland erreicht. Dies markierte den Beginn einer tiefgreifenden Veränderung im Leben der Inuit und ihrer Kultur. Gewehre, Zucker, Tabak und Alkohol wurden gegen Felle getauscht. Die Inuit gerieten in Abhängigkeit von Tausch und Handel. Das dänische Handelsmonopol, der Königlich-Grönländische Handel (KGH) galt bis 1950. Viele Inuit arbeiteten auf den Walfangschiffen, Inuit-Frauen verdingten sich als Prostituierte. Das Christentum zwang den Inuit fremde Rechts- und Moralvorstellungen auf.

Bis zum Zweiten Weltkrieg blieb Grönland isoliert. 1940 schloß der dänische Botschafter in Washington mit den USA einen Vertrag, der diesen die militärische Nutzung strategisch wichtiger Inseln erlaubte. Die USA übernahmen die Versorgung der Bevölkerung. Angesichts des US-amerikanischen Lebensstils entstand in Grönland das Gefühl, Dänemark habe den Lebensstandard bewußt niedrig gehalten. Der Protest veranlaßte Dänemark 1953, den Kolonialstatus aufzuheben. Grönland wurde Provinz innerhalb des dänischen Königreiches mit zwei Sitzen im nationalen Parlament (von 179). 1973 wurde Grönland Teil der EG, schied aber 1985 nach einem Volksbegehren aus der Union aus. Die Überfischung grönländischer Gewässer insbesondere durch westdeutsche Fangflotten hatte wesentlich zum Austritt beigetragen.

Inuit in Alaska

Die Inuit lebten lange Zeit als Sammler und Jäger allein in der Kälte Alyeskas (Alaska; "das weite Land"). Im Dienste des russischen Zaren errichtete der Däne Vitus Bering 1741 an der Küste eine russische Kolonie. In dem tektonisch unruhigen, kargen Gebiet waren die Erwerbsmöglichkeiten weitgehend auf Fischfang und Pelzhandel begrenzt. Landwirtschaft ist nur auf 10% der Fläche möglich. Das Interesse Rußlands beschränkte sich auf den Pelzhandel. Der Rückgang der Pelztiere, der verlorene Krimkrieg 1854 und die erzwungene Räumung russischer Stellungen an der Westküste Amerikas verringerten die Bedeutung Alaskas für das Zarenreich beträchtlich. Im Jahr 1867 verkaufte Rußland ganz Alaska für 7,2 Mio. US-Dollar an die Vereinigten Staaten von Amerika und seine Bewohner gleich mit, ohne diese je gefragt zu haben. Im Zuge des Zweiten Weltkriegs wurde die strategische Bedeutung Alaskas entdeckt: Zunächst besetzte japanisches Militär die Inseln der Alëuten. Nach 1945 errichteten die USA zahlreiche Stützpunkte in Alaska. 1959 erhielt Alaska den Status eines Bundesstaates.

Seit 1896, nach Goldfunden im Klondyke-Gebiet, strömten Goldsucher und Glücksritter nach Alaska. Ebenso wei das Gold, waren sie bis 1914 aber wieder verschwunden. Mit beginn des 20. Jahrhunderts versuchte die US-Regierung, die Pelztierzucht unter den Inuit zu verbreiten. Außerdem warb sie aus Norwegen stammende Angehörige der Saami an, die die Rentierzucht als neuen Erwerbszweig einführen und verbreiten sollten. Dies stieß jedoch auf Ablehnung bei den Einheimischen. Die meisten Saami verließen das Land wieder, nachdem ein Gesetz (1920) festlegte, daß nur noch Inuit und Indianer Rentiere halten durften.

Weiter reichende Folgen als der Goldrausch hatte die Entdeckung von Ölvorkommen. Früh wurde vor den Folgen der Ölförderung, etwa Leckagen an den Pipelines, in einem derart sensiblen Ökosystem gewarnt. Die Ölkrise von 1973 wischte diese Bedenken beiseite. Im Jahr 1977 ging die erste Pipeline in Betrieb. Im März 1989 havarierte die Exxon Valdez vor der Küste Alaskas, 40 Mio. Liter Rohöl verseuchten den tierreichen Prince-William-Sund auf Jahrzehnte.

Im Jahr 1971 verabschiedete die US-Regierung das "Gesetz zur Regelung der Rechtsansprüche der Ureinwohner Alaskas" (ANCSA). Den Inuit und den in Alaska beheimateten Indianern wurden 962,5 Mio. US-Dollar und 1,76 Mio. qkm Land zugesprochen. 13 Regional- und 200 Dorfkörperschaften verwalten seitdem Geld und Land der Ureinwohner. Statt Land und Geld erhielten Inuit und Indianer allerdings nur Anteilsscheine an den Körperschaften (jeweils 100 Stück) und keine Selbstverwaltung. Die Inuit befürchten zurecht, daß durch den Verkauf von Anteilscheinen ihr Land allmählich verloren gehen wird.

Inuit in Kanada

Im berühmten Iglu leben nur noch wenige Inuit-Gruppen in Zentralkanada und Labrador. Die meisten bewohnen Hütten im Einheitsstil der Regierungssiedlungen für Ureinwohner. Die Inuit müssen inzwischen weite Entfernungen zurücklegen, um jagen zu können, was ihre traditionelle Lebensführung erschwert. Nicht zuletzt, weil viele Schlittenhunde wegen Tollwutverdacht eingeschläfert wurden, sind die meisten Inuit auf Schneemobile und Motorboote umgestiegen. Robben und Seehunde erlegen sie mit dem Gewehr, früher benutzten sie Harpunen.

Im Anschluß an Walfänger und Pelzhändler fielen multinationale Konzerne in das Land ein - auf der Suche nach Öl, Erdgas, Uran, Blei und Zink - und bedingten auch hier einen tiefgreifenden Wandel der Kultur. Darüber hinaus gerieten viele Inuit durch Kanadas Politik der erzwungenen Anpassung in Abhängigkeit von der Sozialhilfe, verloren ihre Identität und flüchteten in den Alkohol. Die hohen Selbstmordraten zeigen, daß ihnen die aufgezwungene Lebensfürung zur Qual geworden ist. In Arbeitersiedlungen der Ölfirmen erreichen Alkoholkonsum, Diebstahl und Vergewaltigungen überdurchschnittliche, erschreckende Ausmaße.

Nunavut, "unser Land", heißt das Gebiet zwischen der Nordgrenze der kanadischen Provinz Manitoba und Grönland, das zwei Mio. qkm umfaßt. Nach einer Übereinkunft der Inuit mit der kanadischen Bundesregierung im Mai 1993 trat dort am 1. April 1999 ein Autonomieabkommen in Kraft. Die erste selbst gewählte Regeirung des autonomen Territoriums Nunavut trat ihr Amt an. Dafür, daß sie sich innerhalb der Staatsgrenzen Kanadas jetzt selbst verwalten können, verzichten die Inuit auf weitere Landforderungen und auf künftige Ansprüche auf territoriale Eigenstaatlichkeit.

Erbarmungslose Tierliebe?

Schwer getroffen wurden die Inuit, als die Europäische Gemeinschaft 1983 die Einfuhr von Seehundfellen verbot. Naturschützer - Greenpeace, der World Wildlife Fund und andere Tierschutzorganisationen - hatten aus guten Gründen gegen das Abschlachten von Robbenbabies durch kanadische und norwegische Fangflotten protestiert und den Schutz der Robben gefordert. Die Inuit hatten jedoch schon aus Gründen der Erhaltung der Art nie Robbenbabies sondern nur ausgewachsene Tiere gejagt. Strenge Regeln wurden dabei beachtet. So wurden zum Beispiel trächtige Robben oder säugende Muttertiere nicht erlegt. Doch nun brach der Markt für Robbenfelle völlig zusammen. Die Inuit konnten plötzlich ihren Lebensunterhalt nicht mehr aus der Jagd auf Robben bestreiten und mußten sich auch vom Walfang verabschieden. Ein wesentlicher Bestandteil ihrer kulturellen Identität und ihres Sozialsystems brach ersatzlos weg. Dieselbe Gefahr beschwört das von der EU vorgesehene Einfuhrverbot für Wildfelle herauf, das Inuit und andere Ureinwohner in Kanada betrifft. Etwa 35.000 Ureinwohner besaßen 1995 eine Lizenz zum Fallenstellen. Sie haben in der Regel kaum andere Einkommensquellen, insbesondere in abgelegenen nördlichen Gemeinden. Denn aufgrund des Permafrost können sie das Land nicht für den Anbau von Nahrung nutzen. Interessenorganisationen der Inuit protestierten nicht zuletzt gegen die Art und Weise, wie das Verbot durchgedrückt werden sollte: in schlechter kolonialer Manier, ohne Konsultation der Betroffenen.

Selbstorganisation

Damit die Aufrechterhaltung ihrer Lebensweise nicht nur vom Zufall und guten Willen der Regierungen abhängt, haben sich die Inuit mit der Inuit Circumpolar Conference (ICC) eine eigene, internationale Interessenvertretung geschaffen. Die ICC beschäftigt sich mit dem Ozonloch, dem Aussterben von Meeressäugern, dem Raubbau an Rohstoffen und auch mit sozialen Problemen wie etwa dem Alkoholkonsum. Die Arbeit der ICC hat bis in die Vereinten Nationen hinein Anerkennung gefunden und ist Ausdruck einer wieder wachsenden Selbstwertschätzung der Inuit. Andere, regionale Interessenorganisationen sind die Labrador Inuit Association (LIA) und der Inuit Tapirisat of Canada (ITC). Die LIA hat sich im Kampf um Bürgerrechte, Landrechte, Umweltschutz und ein kulturell angepaßtes Bildungssystem verdient gemacht. Bekannt geworden in Deutschland ist die LIA durch Protestaktionen gegen Tiefflugübungen der deutschen Luftwaffe über Labrador. Der ITC ist in sechs Regionen Kanadas aktiv und engagiert sich für Landrechte, gegen den ungefragten und unkontrollierten Rohstoffabbau und in jüngster Zeit für den Pelztierhandel als Lebensgrundlage vieler Ureinwohner im Norden Kanadas. Unbeschadet der Probleme haben die Inuit, im Vergleich zu anderen indigenen Völkern, noch gute Perspektiven, als eigenständige Kultur zu überleben.

Leseempfehlungen:

     

  • K.-H. Raach, "Bilder aus der Arktis", KaJo-Verlag, Hannover 1991

  • Die Zeitschrift POGROM, Gesellschaft für bedrohte Völker, Göttingen