16.04.2010

Seenomaden droht der Untergang

Madagaskar:

Vezo-Dorf flickr dario lorenzetti.jpg

Aus: bedrohte völker_pogrom 254, 3/2009

Als die Tsunami-Katastrophe im Jahr 2004 die Küsten vieler Staaten Südostasiens zerstörte, wurde eine breite Öffentlichkeit auf das Schicksal der Seenomaden in Thailand, Burma und Indonesien aufmerksam. Die Gesellschaft für bedrohte Völker setzte sich damals mit einem Hilfsprojekt für Seenomaden in der Nähe des thailändischen Urlauberzentrum Phuket ein. So konnte einer ganzen Gruppe von Ureinwohnern ihre von der Flutkatastrophe zerstörten Boote ersetzt werden.

Doch nicht nur an den Küsten Südostasiens leben Seenomaden. Auch im Südwesten der Insel Madagaskar im Indischen Ozean ist noch eine letzte Gruppe von Seenomaden auf Fischzügen nahe der Küste unterwegs. Vor rund 1.700 Jahren sollen die "Vezo" aus dem mehr als 6.000 Kilometer entfernten Indonesien in den Süden Madagaskars gekommen sein. Als Seenomaden unterscheiden sich die Vezo stark von den 17 anderen Volksgruppen Madagaskars, deren Existenz seit Jahrhunderten in bestimmten Siedlungsgebieten der Insel nachweisbar ist. Die Vezo hingegen orientierten sich immer zum Meer hin und verfügten nie über feste Siedlungszentren an Land. Früher waren sie bis zu vier Monate ununterbrochen auf dem Meer und folgten den Fischschwärmen im Ozean. Wenn sie an Land waren, hausten sie in kleinen Zelten, die sie notdürftig aus Stoffbahnen und Holzstangen bauten.

Inzwischen sind die mehreren tausend Vezo sesshafter geworden. Heute brechen nur noch wenige zu längeren Fischzügen auf. Ihre Siedlungen sind fester geworden und bestehen heute aus Bretterbuden, die auf den Stränden in unmittelbarer Nähe des Meeres errichtet werden. Doch wenn eine Region überfischt ist oder aus anderen Gründen dort kaum mehr Nahrungsmittel zu fischen sind, ziehen die Vezo mit ihren Fischer-Pirogen in ertragreichere Regionen weiter und bauen dort eine neue Siedlung auf.

Am häufigsten fischen die Vezo entlang der Korallenbänke, die dem Meeresstrand vorgelagert sind. Mit der traditionellen Harpune jagen sie seit alters her Riesentintenfische. Die meisten Fische werden in Netzen eingefangen. Das Holz für den Bau ihrer kleineren Pirogen finden die Vezo auch heute noch an der Küste Madagaskars. Um größere, sieben bis acht Meter lange Auslegerboote zu bauen, müssen die Vezo Holzstämme von anderen im Inland Madagaskars lebenden ethnischen Gruppen kaufen. Angesichts der Zerstörung des Tropenwaldes in Madagaskar wird das Holz für den Bau der Schiffe immer teurer, sodass einige Ureinwohner schon damit rechnen, bald auf Plastikboote zurückgreifen zu müssen.

Aber die Zeiten des Fischüberflusses sind schon lange vorbei. Gigantische Fischfang-Flotillen aus Europa, Korea, Japan und Taiwan haben auch die Küsten vor Madagaskar leer gefischt. Immer dürftiger sind die Fänge, die die Vezo machen und an lokale Händler, Restaurants und Konservenfabriken verkaufen. Schuld daran sind vor allem die engmaschigen Netze, die von vielen industriellen Schleppnetzfischern benutzt werden. So werden auch kleine Fische mitgefischt, die weder Verbraucher noch Industrie nutzen können. Durch diese rücksichtslosen Raubzüge im Indischen Ozean werden die Fischbestände immer geringer und haben keine Chance, sich zu regenerieren. Den Vezo war ein solcher Raubbau an den Ressourcen fremd. Sie achteten darauf, nicht mehr Fisch zu fangen als benötigt. Übermäßiges Fischen werde den Zorn der Götter der Meere heraufbeschwören, fürchteten die Ureinwohner.

Doch auch einige Vezo und andere Fischer im Südwesten Madagaskars gaben in den letzten Jahren ihre traditionellen Fangmethoden zugunsten modernerer und weniger umweltschonender Fangweisen auf. So beklagen Meeresbiologen, dass nicht nur der Fischreichtum in der Region deutlich zurückgegangen sei, sondern dass durch übermäßige Nutzung und schonungslosen Umgang auch die einzigartige Welt der Korallenriffe immer mehr zerstört wird. Schuld an der Überfischung ist auch die stark wachsende Zahl von Fischern. Innerhalb von 30 Jahren hat sie sich in vielen Dörfern verdreifacht. Grund dafür ist nicht nur das stetige Bevölkerungswachstum, sondern vor allem die zunehmende Verarmung der ländlichen Bevölkerung.

Ausländischen Fischern war dies egal. Sie hielten sich nicht an die ungeschriebenen Gesetze des Fischens für den Eigenverbrauch und fischten den Ozean systematisch leer. Dies hat katastrophale Folgen für die Vezo. Denn sie sind nicht nur Fischer und damit wirtschaftlich in ihrer Lebensgrundlage bedroht. Das Leben auf und vom Meer bildet seit Jahrhunderten das Rückgrat der Existenz dieses Volkes. Seine kulturelle Identität ist eng mit dem Meer verbunden. Denn den Vezo dient das Meer sowohl als Schule, Kirche, Friedhof, wie auch als Apotheke und Lebensmittelladen.

Fraglich ist, wie lange sie dieses traditionelle Leben noch führen können. Die Überfischung ist dabei nur eines ihrer Probleme. Auch wird ihnen immer häufiger der Zugang zu Küsten und Stränden versperrt, die von Hotels und Restaurants beansprucht werden, um ausländische Urlauber anzulocken. Für diese Touristikindustrie sind die Vezo nur noch als exotischer Werbeträger interessant. Dass ihr traditioneller Lebensraum durch den ungezügelten Ausbau des Tourismus zerstört wird, interessiert niemanden.

Einige Vezo versuchen deshalb eine wirtschaftliche Neuorientierung und arbeiten als Fremdenführer oder bieten ihre gute Kenntnis des Meeres an, um Touristen einzigartige Einblicke in den Reichtum der Korallenriffe zu geben. Staatliche Stellen und Entwicklungshelfer bemühen sich um einen regelmäßigen Schulbesuch der Vezo-Kinder, um ihnen neue Perspektiven für eine Ausbildung in anderen Berufsfeldern als im Fischfang zu verschaffen. Doch für ihre traditionelle Kultur und Identität würde die endgültige Abkehr vom Leben auf und vom Meer den Untergang bedeuten.