14.05.2013

Syrische Zivilbevölkerung leidet unter den Folgen des Bürgerkrieges

Verlorene Heimat

Aus bedrohte völker_pogrom 274, 6/2012

Seit Beginn des Aufstands gegen das Assad-Regime im März 2011 herrschen Unruhe und Angst unter der Zivilbevölkerung. Der Traum von einem schnellen Machtwechsel wurde schon nach kurzer Zeit von heftigen Kämpfen überschattet, die bislang nach Schätzungen der Vereinten Nationen mehr als 70.000 Menschenleben gekostet haben. Die Umsturzversuche entwickelten sich zu einem blutigen Bürgerkrieg, der Leid und Chaos in das Land gebracht und den Menschen ihre Heimat genommen hat.

Für diejenigen, die überlebt haben, wird das tägliche Leben zur Qual. Viele Menschen können ihren Berufen nicht mehr nachgehen: Die Infrastruktur ist zu großen Teilen zerstört und wegen der ständigen Gefahr von Angriffen trauen sich viele nicht mehr aus dem Haus. Das hat katastrophale wirtschaftliche Folgen für Familien – besonders, weil die Preise für Nahrungsmittel rasant gestiegen sind. Mehl kostet mittlerweile das Dreifache, da die Landwirtschaft in Syrien durch den Krieg stark in Mitleidenschaft gezogen wurde. Die Vorräte reichen nicht mehr aus; das Grundnahrungsmittel Brot ist eine seltene Ware. Menschen stehen stundenlang an und jede Familie erhält nur noch zehn Fladenbrote täglich.

Es fehlt am Nötigsten: Nach einem Bericht der UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) werden dringend Nahrungsmittel, Saatgut, Treibstoff, Hygieneartikel und Medikamente benötigt. Selbst die Wasser- und Stromversorgung in ländlichen Gebieten ist der UNICEF zufolge teilweise nicht mehr gewährleistet. Die Behandlung in Krankenhäusern ist nur stark eingeschränkt möglich und die industrielle Produktion musste vielerorts eingestellt werden wegen der ständigen Bedrohung durch Kämpfe. Das Land befindet sich in einem humanitären Ausnahmezustand. Die Menschen sind auf sich gestellt. Schätzungen zufolge sind bis zu fünf Millionen Syrer auf Nahrung und Hilfe von außen angewiesen. Besonders besorgniserregend sei die Situation in den „Kampfhochburgen“ Idlib, Latakia und in den Verwaltungsbezirken nördlich von Aleppo, berichtete die UN im Dezember 2012.

Flucht als letzter Ausweg

Aufgrund der knappen Ressourcen sind mittlerweile auch diejenigen gezwungen das Land zu verlassen, die bisher von ihren eigenen Reserven leben konnten. Mehr als 700.000 Syrer haben bisher Familienangehörige zurückgelassen und sich auf den Weg in eine ungewisse Zukunft begeben. Sie suchen Schutz in den Nachbarstaaten Libanon, Türkei, Jordanien, Irak sowie in Nordafrika. Innerhalb Syriens sind zudem etwa 2,5 Millionen Menschen auf der Flucht. Bisher fanden sie Schutz in ruhigeren Gebieten im Norden des Landes. Doch sie werden wohl früher oder später das Land verlassen müssen, denn auch hier haben die Gefechte in den vergangenen Monaten kontinuierlich zugenommen. Es gibt kaum Orte in Syrien, die nicht von Zerstörung und Gewalt betroffen sind.

Mehr als eine Million Flüchtlinge befinden sich mittlerweile außerhalb Syrien, schätzt das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR). Die Aufnahmekapazitäten der Nachbarstaaten stoßen jedoch jetzt schon an ihre Grenzen. Im Libanon bilden Syrer mittlerweile vier Prozent der Gesamtbevölkerung. Knapp 200.000 Menschen haben sich vom UNHCR als Flüchtlinge registrieren lassen, täglich kommen Tausende hinzu. Unter den Neuankömmlingen befinden sich viele Kinder, die es teilweise sehr schwer haben, einen Schulplatz zu finden und sich zu integrieren. Viele haben bereits seit zwei Jahren keine Schule mehr besucht. Hier im Libanon haben sie Schwierigkeiten, denn die Unterrichtssprache ist häufig Französisch. Syrische Familien wissen nicht, wie lange sie bleiben müssen und die einheimische libanesische Bevölkerung ist teilweise überfordert und fürchtet, dass die Gewalt auf den Libanon übergreifen könne. Am schlechtesten geht es denjenigen, die in Zelten leben müssen, weil ihnen die Mittel für andere Unterkünfte fehlen. In der Bekaa-Ebene, unweit der Grenze zu Syrien, leben die Menschen in Zelten aus zusammengenähten Planen und Kartoffelsäcken und sind der Kälte schutzlos ausgesetzt. Ein Sturm Anfang dieses Jahres fegte bis zu einen Meter Schnee zwischen die Zelte. Mehrere Menschen starben und viele wurden verletzt, weil sie von dem heftigen Schneetreiben überrascht worden waren.

Kein Ende in Sicht

Die prekäre Situation der Flüchtlinge und der Zivilisten wird so lang andauern, bis der Bürgerkrieg in Syrien endlich aufhören wird. Doch bisher sind weder ein Ende der Gewalt noch eine politische Lösung des Konfliktes in Sicht. Erste wichtige Schritte wären ein sofortiger Waffenstillstand und Friedensverhandlungen. In einem zweiten Schritt müssten die begangenen Verbrechen strafrechtlich verfolgt werden.

Anfang Januar 2013 unterstützten 57 Länder einen Antrag der Schweiz an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, der ein Einschalten des Internationalen Strafgerichtshof für Kriegsverbrechen fordert – ein erneuter Versuch gegen die Straflosigkeit vorzugehen. Dem Antrag sind Berichte von UN-Experten beigefügt, die Massenhinrichtungen, willkürliche Verhaftungen, Folter, Verletzungen der Rechte von Kindern und sexuelle Gewalt in Syrien dokumentieren. Diese schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen sind bereits seit November 2011 bekannt. Die Berichterstattung in den westlichen Medien war jedoch zunächst sehr einseitig und beschuldigte allein das Assad-Regime der Verbrechen. Zu sehr klammerte man sich an das Bild der mutigen Revolutionäre, die das Land befreien sollten. Menschenrechtsverletzungen werden mittlerweile auch von der Opposition begangen.

Der UN-Sicherheitsrat ist in der Syrien-Frage jedoch tief gespalten und ein Erfolg des Antrags ist unwahrscheinlich. Die Veto-Mächte Russland und China verhinderten im vergangenen Jahr bereits drei Resolutionen, die Syrien mit Sanktionen belegt hätten. Es bleibt zu hoffen, dass die Androhung der Strafverfolgung vor dem Internationalen Gerichtshof die Konfliktparteien ermahnt, die Zivilbevölkerung zu schonen.

Die gestohlene Revolution

Für die Menschenrechtsverletzungen seitens der Opposition sind vor allem radikal-islamistische Verbände wie die "al-Nusra-Front" verantwortlich. Diese konnten in der Opposition massiv an Einfluss gewinnen, da sie gut organisiert, ausgebildet und ausgerüstet sind: Die Islamisten werden von Staaten wie Saudi-Arabien und Katar mit Waffen und Geld unterstützt und in der Türkei ausgebildet. Sie benutzen Zivilisten als menschliche Schutzschilde für ihren Kampf, indem sie sich in Wohnvierteln verschanzen – und das, obwohl sie genau wissen, dass das Regime mit großflächigen Bombardierungen reagiert.

Die offizielle Armee der Opposition, die Freie Syrische Armee (FSA) –

alle Oppositionsparteien ihr zuzuordnen wäre irreführend, da diese gespalten ist – wurde unter dem Vorwand gegründet, Zivilisten zu schützen. Doch die Gewalt eskalierte, weil sich Teile der Opposition militarisiert haben. Zivilisten sind nicht sicherer geworden, vielmehr ist das Leben der Bevölkerung, ihr Besitz und ihr ethnischer und religiöser Zusammenhalt gefährdet. Viele Syrer sind enttäuscht und haben den Eindruck, die Revolution sei nicht mehr in syrischen Händen, da sich viele Dschihadisten aus dem Ausland der „Revolution“ angeschlossen haben.

Der Bürgerkrieg in Syrien entwickelt sich immer mehr zu einem Kampf zwischen religiösen und ethnischen Gruppen. Mittlerweile sind auch Kurden, Christen und Turkmenen in Kampfhandlungen verwickelt, in einigen Fällen bilden die Minderheiten eigene Milizen zur Selbstverteidigung. Syrische Christen stellen sich mehrheitlich gegen die FSA, da sie von Anfang an für eine friedliche Lösung eingetreten sind. Auch viele Kurden in Syrien missbilligen die Beteiligung der FSA an der Revolution: Sie werfen den Kämpfern ethnische Intoleranz vor.

Neben der FSA und radikal islamistischen Verbänden gibt es immer noch Menschen, die sich für ein demokratisches Syrien und nicht für einen islamischen Staat engagieren. Ihre Zahl ist seit dem bewaffneten Kampf von Rebellen und Regime jedoch erheblich gesunken und sie werden häufig in der Berichterstattung ignoriert. Doch es gibt sie und sie werden sich die Beteiligung an der Neugestaltung ihres Landes nicht nehmen lassen.

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