23.11.2011

Tschetschenien unter Despot Kadyrow: Alltag in Angst

Politische Situation

Tschetschenien liegt im Nordkaukasus, der Region der Russischen Föderation mit dem niedrigsten Sicherheitsstatus und der höchsten Anzahl von Menschenrechtsverletzungen. Nach zwei Kriegen (1994-96 und 1999 - 2001), in denen jeweils bis zu 80.000 Menschen umkamen, leidet die Zivilbevölkerung dort heute unter der despotischen Herrschaft von Präsident Ramzan Kadyrow. Der bewaffnete Untergrund verübt weiter Terrorakte besonders gegen Kadyrow-treue Polizisten und Sicherheitsbeamte, aber auch gegen Zivilisten. Die Kämpfer setzen die Bevölkerung unter Druck, sich ihren Reihen anzuschließen oder sie durch Nahrungsmittel und ähnliches zu unterstützen. Die Arbeitslosigkeit beträgt rund 80%, viele Menschen sind krank, haben Verwandte und Freunde im Krieg verloren und leiden unter Traumata. In der Republik leben im Moment hunderte Familien als Binnenflüchtlinge in Übergangswohnheimen, deren Zwangsräumung angedroht wird.

Die Bevölkerungszahl insgesamt liegt bei rund einer Million. Geradezu traumatische Auswirkungen auf die Gesellschaft hat die Praxis des Verschwindenlassens von Zivilisten. Präsident Ramzan Kadyrow ist ein despotischer Herrscher, der seinen Personenkult pflegt und sich mit Männern umgibt, die ihm hörig sind. Kadyrow propagiert islamische Werte, die ursprünglich nicht in der tschetschenischen Gesellschaft verankert waren, wie die Verschleierung und die massive Reglementierung der Frauen, die als Eigentum der Männer angesehen werden.

Kadyrow ist es gelungen, die Republik weitgehend wiederaufzubauen und ein Regime zu etablieren, das nach außen glänzt. Alle Merkmale einer Demokratie, wie eine freie Presse, ein funktionierendes Parlament, eine unabhängige Justiz oder auch nur ein geringes Maß an Meinungsfreiheit, sucht man hier vergeblich. Kadyrow wird direkt von Wladimir Putin gestützt. Ein Großteil des tschetschenischen Haushalts stammt aus der Moskauer Staatskasse. Dafür wurden Putin und Kadyrow immer wieder kritisiert. Kadyrow stellt seinen Reichtum gerne zur Schau. So ließ er zu seinem 35. Geburtstag im Oktober 2011 Hollywood-Größen einfliegen. Danach gefragt, woher das Geld dafür komme, antwortete er, es falle einfach vom Himmel. Ein Bruch zwischen Putin und Kadyrow ist jedoch nicht absehbar.

Verschwindenlassen als häufigstes Verbrechen

Die Staatsorgane in Tschetschenien wie Polizei, Miliz und Angehörige der Innenbehörden unterstehen Kadyrow und seinen Vertrauten. Selbst wenn sie wollten, könnten sie nicht unabhängig agieren. Dies machen Briefe des Staatsanwalts deutlich, die von der Menschenrechtsorganisation Memorial veröffentlicht wurden (Link).

Das am weitesten verbreitete Verbrechen in Tschetschenien ist die Entführung oder Verschleppung: Unbekannte, meist maskierte und bewaffnete Männer dringen in die Wohnung des Opfers ein und zerren den Betroffenen mit sich. In den ersten Tagen nach der Tat verweigern die Behörden die Auskunft über diese Fälle. Danach versuchen die Angehörigen verzweifelt, ihre Söhne, Männer oder Brüder zu finden. Meist haben sie keinen Erfolg.

Menschen werden aber auch auf offener Straße verschleppt. Sie werden in illegale Gefängnisse gebracht und systematisch gefoltert. Einige werden ermordet. In manchen Fällen wird dann ein Verfahren eingeleitet. Die Ermittlungen, so ist die Menschenrechtsorganisation Memorial überzeugt, sind aber nur „Scheinermittlungen“, da es keinen politischen Willen gibt, die Hintermänner der Taten - in den allermeisten Fällen Angehörige der Sicherheitsstrukturen - zu verhaften. Das Schicksal von Tausenden Menschen ist ungeklärt.

Opfer von Verschwindenlassen werden unterschiedliche Personengruppen: Männer, die verdächtigt werden, dem bewaffneten Untergrund anzugehören oder ihn zu unterstützen, bzw. Salafisten* zu sein. Entführt werden auch Rückkehrer nach Tschetschenien, die von den Behörden generell verdächtigt werden, zurückgekehrt zu sein, um den bewaffneten Untergrund zu unterstützen. Kadyrow ruft offen zu Denunzierung, Gewalt, Selbstjustiz und Strafmaßnahmen gegen seine Gegner auf. Dass Eltern für die Taten ihrer Kinder verantwortlich gemacht werden, ist für ihn selbstverständlich.

Memorial beschreibt dieses „Verschwindenlassen“ als „massenhaftes und systematisches Verbrechen“ und listet Einzelfälle auf. Es gelingt der Organisation aber nicht mehr, ein flächendeckendes Monitoring durchzuführen. Deshalb bezeichnet Memorial die aufgeführten Fälle als „Spitze des Eisbergs“.

Frauen ohne Rechte

Der tschetschenische Präsident Kadyrow hat sich klar darüber geäußert, wie er die Rolle der Frau in Tschetschenien sieht:

"Die Frau muss ihren Platz kennen……. Eine Frau muss ein Eigentum sein und der Mann ist der Besitzer. Bei uns ist es so, dass der Mann und der Bruder die Verantwortung tragen, wenn sich eine Frau nicht richtig verhält. Und wenn eine Frau über die Stränge schlägt, dann wird sie, entsprechend unserer Traditionen, von den Verwandten getötet. …. Ja, das ist alles vorgekommen, dass der Bruder seine Schwester, der Mann seine Frau getötet haben" (Quelle: http://www.kp.ru).

Der tschetschenische Staat in Person von Ramzan Kadyrow bestimmt auch über die Kleidung der Frauen, über ihre Rolle in Familie und Gesellschaft und bricht so klar die russische Verfassung, nach der Männer und Frauen gleichgestellt sind. Kadyrow verlangt von den Frauen, sich zu verschleiern, d.h. Kopf und Haare, Arme und Beine zu bedecken, obwohl das in Tschetschenien nicht Tradition ist. Hier wurde früher lediglich ein Dreieckstuch getragen oder ein Haarband. Frauen müssen sich an ihrem Arbeitsplatz verschleiern, aber auch auf öffentlichen Plätzen. Frauen, die sich nicht daran halten, laufen Gefahr auf offener Straße angesprochen oder angepöbelt zu werden. Während des Ramadan 2009 gab es Berichte darüber, dass Frauen, die sich nicht nach dem vorgegebenen Kleidungskodex anzogen, mit Farbpistolen beschossen und auf der Straße gedemütigt wurden. (HRW, AI, Bericht) Kadyrow hatte diese Paintball-Attacken damals gerechtfertigt und gut geheißen. Frauen berichten darüber, dass unbekannte Männer sie an ihrem Arbeitsplatz aufsuchen, um zu überprüfen, ob sie „anständig“ gekleidet sind.

Frauen in Tschetschenien sind in der Hinsicht vogelfrei, als sie vor Entführungen nicht sicher sind, wenn ein Mann, besonders aus der Umgebung Kadyrows, ein Auge auf sie geworfen hat. Es gibt Berichte darüber, dass Familien es ihren Töchtern aus Angst vor Verschleppungen verbieten, aus dem Haus zu gehen. Wenn eine Frau verschleppt wird, wird dies als traditioneller Brautraub getarnt, ist jedoch eine schwerste Menschenrechtsverletzung.


*Die Begriffe Salafiten und Salafismus gehen auf den arabischen Begriff Salafiya zurück.

Als Salafiten werden unterschiedliche religiöse und politische Bewegungen bezeichnet, die sich etwa seit Beginn des letzten Jahrhunderts an einem idealisierten Bild der Frühzeit des Islam (arab. "Salaf" steht für "Ahnen", "Vorfahren") orientieren. Der Begriff Salafismus dagegen steht heute für eine Strömung des Islamismus. Ihre Anhänger werden als Salafisten bezeichnet. Sie behaupten, besonders eng dem Wortlaut des Koran und den Überlieferungen über das Leben des Propheten (sunna) zu folgen. Das gilt insbesondere auch für Aeußerlichkeiten wie Bekleidungsvorschriften. Viele Salafisten tragen deshalb lange Bärte, weite Gewänder und Kopfbedeckungen. Frauen, die kein Kopftuch tragen, begehen nach Überzeugung von Salafisten eine schwere Sünde.