
Ein neuer Bericht der Vereinten Nationen (UN) ist einer der ersten, der sich ausschließlich mit Frauen und Mädchen befasst, die infolge sexualisierter Gewalt in Konflikten schwanger werden, sowie mit Kindern, die in Folge solcher Gewalt geboren werden. Für viele Minderheiten sind dies gute Nachrichten. Aber es gibt auch Kritik an den Äußerungen der UN.
Von Lina Stotz, Johanne Rokke Elvebakken, Ingvill Constanze Mochmann, Inger Skjelsbæk, Sunniva Árja Tobiasen und Torunn L. Tryggestad
Der Begriff „Kinder des Krieges“ bezeichnet Kinder, die von einheimischen Müttern geboren und von Männern gezeugt werden, die als feindliche Soldaten, Mitglieder paramilitärischer Gruppen oder als Blauhelmsoldaten in einen Konflikt verwickelt sind. Diese Kinder werden sowohl in Kriegsvergewaltigungen als auch in einvernehmlichen Beziehungen, einschließlich Liebesbeziehungen, gezeugt.
Alle Bemühungen, sich mit Kriegskindern und Überlebenden von sexualisierter Kriegsgewalt zu befassen, sind notwendig und wichtig. Denn in jedem Konflikt, in dem Vergewaltigungen begangen werden, werden auch Kinder geboren. Die meisten dieser Kinder sind Stigmatisierung, Diskriminierung, Gewalt, rechtlichen Hindernissen und gesundheitlichen Problemen ausgesetzt. Diese Benachteiligungen begleiten sie oft viele Jahre, in einigen Fällen sogar ihr ganzes Leben lang. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen hat Ende Januar 2022 einen neuen UN-Bericht zu Kindern des Krieges veröffentlicht.
In Anbetracht der jüngsten Invasion Russlands in die Ukraine lässt die neue Offenheit der UN gegenüber Kindern des Krieges hoffen, dass diese in der Ukraine Hilfe bekommen werden – denn es wird Kinder des Krieges in der Ukraine geben. Im Osten der Ukraine wird bereits seit Jahren sexualisierte Kriegsgewalt begangen. Nichtregierungsorganisationen haben sie dokumentiert. Doch der neue UN-Bericht offenbart auch einige Vorurteile.
Stigmatisierung
In dem Bericht werden Kinder des Krieges ausschließlich als „Kinder, die durch sexualisierte Gewalt geboren wurden“ bezeichnet. Diese Bezeichnung reduziert diese Kinder auf die schreckliche Art und Weise, in der sie gezeugt wurden. Andere Elemente ihrer Leben lässt sie außer Acht: Je nach Konfliktkontext können diese Kinder mit Diskriminierung, sozialer Ausgrenzung, Staatenlosigkeit, (Zwangs-)Adoption, Missbrauch und vielem mehr konfrontiert sein.
Außerdem wird diese Bezeichnung der Tatsache nicht gerecht, dass die Grenzen zwischen Gewalt, Zwang und Konsens manchmal fließend sind. Untersuchungen zeigen, dass die Wahrnehmung der Mütter und der Kinder in der Gesellschaft in hohem Maß mit dem Feindstatus der Väter zusammenhängt und nicht nur mit dem Akt der Empfängnis selbst. Dies legen Daten über Kriegskinder nahe, die in den Zweiten Weltkrieg zurückreichen: Die Art der Stigmatisierung unterschied sich häufig nicht zwischen Kindern, die durch Vergewaltigung gezeugt wurden, etwa von russischen Soldaten in Deutschland, und Kindern, die in einvernehmlichen Beziehungen gezeugt wurden, zum Beispiel zwischen deutschen Soldaten und dänischen oder norwegischen Müttern während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Erkenntnis zeigt, dass es wichtig ist, die Implikationen der verwendeten Begriffe aus der Perspektive der Kinder zu verstehen. Die Bezeichnung „Kinder des Krieges“ ist ein angemessenerer Begriff.
Auch ist es wichtig, Minderheitenperspektiven nachzuvollziehen. Während und nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die von deutschen Soldaten gezeugten Kinder samischer (indigener) Frauen in Norwegen anders behandelt als die von norwegischen Müttern – und zwar sowohl vom Nazi-Regime als auch von der norwegischen Regierung. Die Kinder samischer Abstammung waren mit doppelter Stigmatisierung konfrontiert: als Sami und als Kinder von Nazi-Soldaten.
In Kriegen und Konflikten der jüngeren Vergangenheit spielen ethnische Zugehörigkeit und Indigenität ebenfalls eine besondere Rolle. Sie kann Familien, lokale Gemeinschaften und Regierungen vor die Frage stellen, wie sie die Kinder anerkennen und unterstützen. Dies ist zum Beispiel der Fall in Bezug auf Bosnien und Herzegowina. Hier war die Zeugung von Kindern Teil einer Strategie, die muslimische Bevölkerung zu verdrängen, indem „serbische“ Babys gezeugt wurden.
Kinder als nachträglicher Gedanke
Im UN-Bericht ist immer wieder die Rede von „Opfern und ihren Kindern“ oder „Überlebenden, die schwanger werden“ oder „Überlebenden und Kindern, die durch konfliktbedingte Vergewaltigungen geboren werden“. Diese Formulierungen legen nahe, dass Kinder des Krieges in den Augen des Generalsekretärs weder als Überlebende noch als Opfer betrachtet werden. Sie werden nur am Rande erwähnt. Dies ist merkwürdig, da der Bericht mehrere der Härten erwähnt, die diese Kinder erleiden: wie „körperliche Verletzungen, psychologische Traumata, sozioökonomische Marginalisierung, Staatenlosigkeit, Diskriminierung, Stigmatisierung und rechtliche Hindernisse“. Somit erkennt er an, dass Kinder des Krieges ernsthaften Schäden ausgesetzt sind. Warum werden diese Kinder dennoch nicht als eigenständige Subjekte beschrieben, die einer gezielten Analyse und Unterstützung bedürfen?
Wenn die Erfahrungen dieser Kinder denen ihrer Mütter untergeordnet werden, besteht die Gefahr, dass die Kinder von humanitären Bemühungen und Wiedereingliederung ausgeschlossen werden. So entschied sich etwa die yezidische Gemeinschaft im April 2019 für die Aufnahme und Wiedereingliederung von yezidischen Frauen, die von Kämpfern des sogenannten „Islamischen Staats“ im Nordirak entführt und vergewaltigt wurden. Ihren in Gefangenschaft gezeugten Kindern verweigerte die Gemeinschaft aber ausdrücklich die Integration. Der Grund: Die yezidische Führung sehe diese Kinder nicht als yezidisch an, da ihre Väter keine Yeziden seien. Viele dieser Kinder wachsen nun ohne ihre Mütter in prekären Verhältnissen auf. Die Folgen sind nicht nur für die Kinder negativ. Auch viele Mütter leiden darunter, von ihren Kindern getrennt zu sein. Die Anerkennung von Müttern als Opfer und Überlebende, aber nicht der Kinder, kann sich also sehr negativ auf beide auswirken.
Kinder als Sicherheitsrisiko
In dem Bericht heißt es, dass einige im Krieg geborene Kinder „gewalttätiges Verhalten aufzeigen“. Es ist zwar die traurige Wahrheit, dass viele Kinder, die im Krieg geboren wurden, innerhalb von bewaffneten Gruppen oder in Flüchtlingslagern aufwachsen, in denen sie oftmals radikalen Ideologien und Gewalt ausgesetzt sind. Doch Diskussionen darüber sollten mit Umsicht geführt werden. Kinder als Sicherheitsrisiko darzustellen, kann weitere Stigmatisierung und andere drastische Folgen für die Kinder bedeuten.
Diese Kinder haben sich nicht dafür entschieden, gewalttätig zu handeln; sie werden so sozialisiert, dass es fast unmöglich ist, dies nicht zu tun, zum Beispiel wenn sie als Teil von Rebellengruppen aufwachsen. Dies war bei vielen Kindern der Fall, die in die ‚Lord‘s Resistance Army‘ (dt.: Widerstandsarmee des Herrn, gegründet: 1987) in Uganda hineingeboren wurden. Einige dieser Kinder mussten den größten Teil ihrer Kindheit im „Busch“ verbringen, ohne Zugang zu Schulen, aber mit ständigem Kontakt zu Gewalt und bewaffneten Angriffen.
Diese Kinder als Sicherheitsrisiko abzustempeln wird ihren Erfahrungen und Persönlichkeiten nicht gerecht. Ein vernünftigerer Weg, sich mit diesem Thema zu befassen, wäre die Finanzierung von Programmen zur De-Radikalisierung und Integration. Diese Aspekte werden in den Empfehlungen des UN-Berichts jedoch nicht erwähnt.
Nur eine Seite der Geschichte
Der Bericht hält fest, dass viele Frauen und Mädchen nach einer Schwangerschaft und der Geburt eines Kindes, das durch sexualisierte Gewalt gezeugt wurde, psychisch und physisch leiden. Der Zugang zu sicheren Abtreibungen wird für alle Vergewaltigungsopfer gefordert. Dies ist ein wichtiges Anliegen und ein Appell, der dringend umgesetzt werden muss. Es gibt jedoch noch eine andere Seite der Geschichte: Frauen, die ihre Kinder behalten wollen, es aber nicht können. Gründe dafür sind etwa, dass die Frauen zur Empfängnisverhütung oder zur Abtreibung gezwungen werden oder dass sie nicht bei ihrem Kind bleiben können. Auf diese Aspekte geht der Bericht nicht ein.
Dass Mütter nicht bei ihren Kindern bleiben können, kann wirtschaftliche, gesellschaftliche oder rechtliche Gründe haben. Manchmal werden sie auch aktiv daran gehindert; dies ist beispielsweise bei vielen yezidischen Müttern von Kindern des Krieges der Fall, da sie in der Regel nicht zusammen mit ihren Kindern in die Gemeinschaft zurückkehren dürfen. Zurückgelassene Kinder sind Risiken wie Zwangsadoption, Menschenhandel, Missbrauch und Armut preisgegeben. So wird etwa über Kinder des Krieges aus dem Flüchtlingslager Cox Bazar in Bangladesch berichtet, in dem viele Rohingya Flüchtlinge aus Myanmar leben, dass sie vermehrt (Zwangs-)Adoptionen und Menschenhandel ausgesetzt sind.
Für eine Frau, die ihr Kind gerne behalten würde, kann die Tatsache, dass sie dazu nicht in der Lage ist oder sie daran gehindert wird, ähnlich schädliche Auswirkungen auf die psychische Gesundheit haben wie der Zwang, eine Schwangerschaft auszutragen. Sowohl die erzwungene Mutterschaft als auch die erzwungene Nicht-Mutterschaft stellen daher Eingriffe in die reproduktive Autonomie einer Frau dar.
Darüber hinaus haben Kinder das Recht, nicht von ihren Müttern getrennt zu werden. Dies schreibt Artikel 9 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes fest, die UN-Kinderrechtskonvention: „Die Vertragsstaaten stellen sicher, dass ein Kind nicht gegen seinen Willen von seinen Eltern getrennt wird“. Es ist von entscheidender Bedeutung, in der Berichterstattung zu diesem Thema beide Seiten zu berücksichtigen und anzuerkennen, dass Kinder des Krieges eigene Rechte haben.
Schlussfolgerung
Es ist begrüßenswert, dass der Generalsekretär endlich einen umfassenden Bericht über die weltweite Notlage von Kindern des Krieges veröffentlicht hat. Denn diese Opfergruppe erhält erst seit den vergangenen Jahren auf internationaler politischer Ebene wachsende Aufmerksamkeit. Dabei steht das Thema in der Forschung und unter erwachsenen Kriegskindern schon seit mehreren Jahrzehnten auf der Tagesordnung.
Während sich der Bericht in einigen Abschnitten für die Interessen von Kriegskindern einsetzt, bleibt er in anderen Aspekten, wie aufgezeigt, hinter seinen Möglichkeiten zurück. Die diskutierten Unzulänglichkeiten machen deutlich, dass das Bewusstsein für die Belange von Kriegskindern geschärft werden muss. Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen fordern dies bereits seit vielen Jahren. Darüber hinaus ist mehr Forschung erforderlich, um die Bedürfnisse von Kindern, die im Krieg geboren wurden, besser zu verstehen. Die Erkenntnisse sollten in humanitäre Initiativen einfließen. Außerdem sollte ein Überwachungssystem eingerichtet werden, das laufende Konflikte auf Anzeichen sexualisierter Gewalt und damit auch auf mögliche Schwangerschaften und Geburten von Kriegskindern untersucht.
Mit großer Sorge sollte in dieser Hinsicht auch der Krieg zwischen Russland und der Ukraine betrachtet werden. Dieser Konflikt wird im Bericht des Generalsekretärs nicht erwähnt, obwohl es wahrscheinlich ist, dass in der Ostukraine bereits Kinder des Krieges geboren wurden. Der russische Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 wird weitere sexualisierte Gewalt mit sich bringen – es gibt bereits derartige Hinweise. Dies macht die Frage nach angemessenen Maßnahmen zum Schutz von Kindern des Krieges gerade wieder akut – insbesondere angesichts der nationalistischen Motive von Präsident Wladimir Putin.
„Russenkinder“ wurden Kinder von russischen Soldaten und deutschen Müttern geschimpft, die gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, meist durch Vergewaltigungen, gezeugt wurden. Viele litten und leiden ein Leben lang an der Ausgrenzung, Benachteiligung und Gewalt, die sie erfahren haben. Es ist zu wünschen, dass dieses Schicksal künftigen Generationen erspart bleibt.
[Autorinnen]
Lina Stotz, Johanne Rokke Elvebakken, Prof. Dr. Ingvill Constanze Mochmann, Prof. Dr. Inger Skjelsbæk, Sunniva Árja Tobiasen und Dr. Torunn L. Tryggestad
Die Autorinnen gehören dem EuroWARCHILD Project an, einem einzigartigen Forschungsprojekt zu den Bedürfnissen und Rechten verschiedener Generationen von Kriegskindern in Europa. Mehr Informationen unter: www.stk.uio.no/english/research/projects/eurowarchild/
[Info]
Die englische Version des vorliegenden Textes erschien auf dem Blog des Friedensforschungsinstituts Oslo (PRIO): https://blogs.prio.org/2022/03/children-born-of-war-should-be-more-than-an-afterthought/
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