Nandiuasora Mazeingo inmitten seiner Tiere. Die Rinder haben auf vielen Ebenen eine starke Bedeutung für die Ovaherero und prägen das gesellschaftliche Zusammenleben.

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Von der Geburt bis über den Tod hinaus sind die Ovaherero mit ihren Rindergefährten verbunden. Rinder sind der Magnet zwischen den Menschen, befrieden Konflikte und verkörpern Wohlstand. Als die Deutschen den Ovaherero während der Kolonialzeit und des Völkermords im großen Stil ihre geliebten Tiere und ihr Land nahmen, zerstörten sie damit für lange Zeit ihre Lebensgrundlage. Das Erbe dieser Enteignung ist bis heute allgegenwärtig. Nandiuasora Mazeingo berichtet im Interview.

Interview geführt von Johanna Fischotter

Foto: Wikipedia; gemeinfrei
Bearbeitung: studio mediamacs Bozen

 

Zu festlichen Anlässen tragen Ovaherero-Frauen einen Kopfschmuck aus Stoff, der an die Hörner von Rindern erinnert. Was bedeutet dieser Kopfschmuck?

Das Herzstück unserer Identität als Ovaherero ist das Rind. Das Rind ist unser Lebensunterhalt, es ist das, was die Kranken heilt, es ist das, was diejenigen reinigt, die als verflucht gelten oder von bösen Geistern besessen sind. Es ist der Anker unseres Lebens. Alles dreht sich um das Rind. Unsere Namen leiten sich größtenteils von Ereignissen ab, die mit Rindern zu tun haben. Mein eigener Familienname, Mazeingo, bezieht sich auf die Überführung der Herde meines Ur-Ur-Ur-Großvaters [des Großen Tjikuere von Etjo Rovineja/dem heutigen Mount Etjo] von einem Aufzuchtsort zum anderen. Auch unterscheiden wir Familien anhand der Rinder: das sind jene mit den weißen Rindern, oder jene mit schwarzer Rinderverbindung. 

Das Rind verleiht uns Prestige, Stolz und politische Autorität, um als aufrechtes Volk unter den Nationen der Welt zu sprechen. Als wir also den ikonischen Kopfschmuck entwarfen, musste er Hörner der Rinder symbolisieren, denn es ist das, was unserem Wesen entspricht. Im Verlauf einer Hochzeitszeremonie gibt es einen Moment, bei dem junge Frauen eingeweiht werden, Otjikaiva, so heißt die Kopfbedeckung, zu tragen.

Historisch haben wir die Hörner als Grabsteine benutzt. Waren auf einem Grab die Hörner eines riesigen Ochsen platziert, wiesen sie auf das hohe Ansehen des Verstorbenen hin, auf seinen Status in der Gesellschaft. Je größer die Hörner, desto angesehener war der Mensch. Unsere Vorfahren wählten auch eine heilige Kuh aus, in der sie begraben werden wollten. Rinder waren unsere Särge. Die Menschen wurden in die Felle und Häute ihrer geliebten Rinder geschmückt und begraben.

Wir haben spezielle Rinder für verschiedene Anlässe. Es gibt Rinder, die nur für Leute, die hoch angesehen sind, gemolken werden. Nur sie dürfen die Milch von diesen Rindern trinken. Wenn man heiratet, wird das Vieh zwischen den Familien ausgetauscht. Es ist das Vieh, das kriegführende Clans zusammenbringt. Wenn du Frieden willst, schlachtest du ein Rind und wir essen zusammen. Wenn man seine Kinder zu harter Arbeit anspornen oder sie belohnen will, schenkt man ihnen eine Kuh. Rinder geben uns als Volk also nicht nur eine Lebensgrundlage, sondern auch Ordnung und sozialen Zusammenhalt durch klare Hierarchien der Autorität und der Erbfolge, aber vor allem durch das Versprechen auf Kontinuität. In meiner Kultur zählt man nicht viel, wenn man keine Rinder besitzt.
Alles beginnt und endet mit dem Schlachten und Fleischessen. Das Rind ist bis heute eine Art Magnet für uns: Wenn eine Kuh geschlachtet wird, kommen alle zusammen. Es zeigt, dass etwas Wichtiges passiert ist: Die Geburt eines Kindes oder die Namensgebung eines Kindes. Eine Hochzeit, eine Beerdigung. Aber niemals wird eine Kuh zum Spaß geschlachtet. Die Kuh ist für uns heilig. Wenn es nicht wichtig ist, dann schlachten die Leute eine Ziege oder jagen ein Kudu [Antilopen-Gattung; Anm. d. Red.]. Aber wenn wir eine Kuh schlachten, vermittelt das ein Gefühl von Wichtigkeit und Ernsthaftigkeit.

 

Welche Rolle spielt das Rind heute noch im Alltag der Ovaherero?

Selbst heute, so modernisiert, gebildet, verwestlicht wie wir irgendwie sind, halten wir Rinder. Ich verbringe jedes Wochenende bei ihnen, streichle ihre Rücken. Es gibt mir Gelassenheit, ihnen beim Kalben zuzusehen; ein Gefühl der Erfüllung und der Bestimmung. Ich tue mit der Rinderzucht etwas, das Leben spendet und sich vermehrt. So kann ich nicht nur meine unmittelbare Familie ernähren, sondern auch meine erweiterte Familie, die Menschen in meiner Gemeinde. Das gibt uns Sicherheit. Wenn Menschen aus dem Westen zur Bank rennen, um einen Kredit aufzunehmen, opfern unsere Leute eine Kuh, verkaufen sie und bekommen das Geld, um ihre Bedürfnisse zu decken.
Früher hatten wir Land, sodass die Rinder sich vermehren und frei umherziehen konnten. Aber spätestens nach dem Völkermord ab 1904 verloren wir einen Großteil unseres Landes, das von den aufeinander folgenden Kolonialverwaltungen enteignet und nie zurückgegeben wurde. Die Überlebenden wurden in die sogenannten Eingeborenenreservate verfrachtet. Wir halten nur noch kleine Rinderherden, angepasst an das begrenzte Gebiet. Aber das bedeutet: Wenn man wenige Tiere zu viel melkt, dann hat man am Ende dünne Kälber und dünne Tiere. So bekommt man dann weniger, wenn man ein Rind verkauft oder eintauscht. Wenn man nicht viel bekommt, hat man nicht die Kaufkraft, um sich zum Beispiel abwechslungsreich zu ernähren. Es gibt viel Diabetes unter den Ovaherero und Probleme mit dem Blut. 

 

Sie haben die großen Veränderungen durch den Völkermord an den Ovaherero bereits angedeutet. Bitte erzählen Sie von der traditionellen Lebensweise Ihres Volks vor der deutschen Kolonialherrschaft.

Wir waren schon immer ein Volk von Viehzüchtern. Die großen Viehzüchter zogen vor vielen Jahren von den Großen Seen in Zentral- und Ostafrika in das südliche Afrika, wo wir uns als stolzes, ruhmreiches Volk niederließen. Wir wurden stets von unseren Rindergefährten begleitet und in den meisten Fällen auch geleitet. Ein Mann erbt die Rinder von seiner Mutter. Die mütterliche Abstammung bestimmt die Identität. Man bekommt aber auch Rinder von der väterlichen Seite. Die sind richtungweisend für die Spiritualität, wie die Person mit ihrem Gott verbunden ist. Deswegen war es immer ein großes Verbrechen, wenn Rinder gestohlen wurden oder wenn sie misshandelt wurden. Das kann sogar zum Tod des Besitzers führen, weil wir glauben, dass einige Rinder mit dem Leben einer Person, mit ihrem Wesen, verbunden sind. Wir sind weitgehend eine egalitäre Gesellschaft. Bei den Ovaherero gab es nie diese zentralisierte Macht von Monarchien und Königreichen. Bei uns waren die meisten Familien mit ihren Rindern in der Lage, sich selbst zu versorgen. Natürlich gab es in bestimmten Gebieten Clans, die über mehr Reichtum verfügten als andere. Aber im Großen und Ganzen waren alle Ovaherero der verschiedenen Stämme Herr ihres eigenen Schicksals. Das ist ein Grund, warum es den Deutschen sehr schwerfiel, die Herero zu beherrschen, als sie das Land kolonisieren wollten. Selbst als sie das Land und so viele Dinge übernommen hatten, weigerten sich die Ovaherero immer noch, sich den kolonialen Systemen von Arbeit und Betteln anzuschließen. Sie sagten: „Nein, wir arbeiten nicht für Menschen. Wir haben unsere Rinder; wir können immer noch von unserem Vieh leben.“ Das frustrierte die deutschen Verwalter zutiefst.
 

Gesunde Kälber aus Nandiuasora Mazeingos Zucht
Foto: © Privat
Dieser Stier ist ein ganz besonderes Tier für unseren Interviewpartner, denn er hat den jungen Bullen selbst aufgezogen.
Foto: © Privat

 

Die Deutschen errichteten im damaligen Deutsch Südwest-Afrika ein rassistisches Kolonialsystem. Eine Rinderpest spielte ihnen dabei in die Karten. Wie?

Die Krankheit, die 1897 in unser Land kam, hat fast unser gesamtes Vieh ausgerottet. Die Rinderseuche hat unser Volk schwer getroffen. Wir waren geschwächt. Dann hat das deutsche Manöver, das Land zu übernehmen, durch betrügerische Geschäfte zu stehlen, an Fahrt gewonnen. Der Höhepunkt war schließlich die Zeit des Völkermords zwischen 1904 bis 1908. 
Der endgültige Transfer von Land und Vieh von den Ovaherero an die Deutschen (und später an die afrikanischen Invasoren) geschah nicht willkürlich, nicht von Einzelpersonen hier und da. Es war ein system-sanktioniertes Programm. Der kaiserliche Staat, Deutschland, hatte Gesetze und Vorgaben erlassen, in denen es hieß, dass alles Ovaherero- und Nama-Vieh konfisziert werden muss. Und dass alles Ovaherero-Land und Nama-Land enteignet werden muss. Natürlich hatte es schon vor diesen Dekreten Enteignungen gegeben, aber nicht in demselben Ausmaß. Anschließend wurden Brunnen systematisch vergiftet, um Menschen und Tiere auf der Flucht zu töten. Die Überlebenden des Völkermords wurden in Konzentrationslager gesteckt. So haben wir alles verloren. Und nichts von dem, was wir verloren haben, wurde je zurückgegeben – nichts. 
Nach dem Völkermord und dem Ende des Systems der Konzentrationslager kam eine neue Periode der Versklavung. Unser Volk wurde zwar aus den Konzentrationslagern herausgeholt, aber an die neuen „Besitzer des Landes“ verkauft. Das Land wurde nun eingezäunt. Es wurde in kommerzielle landwirtschaftliche Einheiten umgewandelt. Die neue Strategie bestand darin, die Ovaherero aus den Konzentrationslagern auf die Farmen zu bringen und den neuen deutschen Siedlern zur Verfügung zu stellen. Sie wurden als billige Arbeitskräfte verheizt.
Als Teil ihrer Rückgewinnungsstrategie trafen einige Ovaherero durch eigenes Zutun und Einfallsreichtum Vereinbarungen mit ihren neuen deutschen Sklavenhaltern, um, so wenig und selten es auch vorkam, in Rindern statt in Geld entlohnt zu werden. Geld mochten sie größtenteils nicht und benötigten es auch nicht. Da die Ovaherero-Sklaven offiziell einen Lohn für ihre Arbeit erhalten mussten, sagten sie: „Wir wollen nicht in bar bezahlt werden, Rinder sollten unser Lohn sein.“ So begannen wir, unsere Herden wiederaufzubauen. Die Herden, die die Menschen heute haben, lassen sich auf diese Rinder aus diesem Belohnungs- – oder vielmehr Betrugs- – System zurückführen, auf ein oder zwei Kühe hier und da. Es sind diese Rinder, die uns bis heute am Leben erhalten, und das in einem Umfeld, in dem wir völlig an den Rand gedrängt werden und keine Unterstützung durch das gegenwärtige staatliche System Namibias erhalten.

 

Bis heute besitzen weiße Farmer das meiste Land im traditionellen Siedlungsgebiet der Ovaherero. Glauben Sie noch an Gerechtigkeit?

Ja, das tue ich. Deshalb mache ich die Arbeit, die ich mache. Es ist jedoch noch ein weiter Weg zur Gerechtigkeit. Das hat verschiedene Gründe. Die Unabhängigkeit Namibias 1990 hat für die verschiedenen Gemeinschaften in Namibia unterschiedliche Dinge bedeutet. Für die nördlichen Gemeinschaften bedeutete sie vor allem das Ende der ausländischen Besatzer. Diese Gemeinschaften wurden weitgehend auf ihrem angestammten Land unterdrückt. Aber sie haben ihr Land nicht verloren. Sie leben noch immer dort. Uns hingegen wurde das Land genommen. Wir wollten mit der Unabhängigkeit also, dass der Unterdrücker verschwindet, aber auch, dass wir unser Land zurückbekommen. Dieses letzte Ziel wurde von den namibischen Machthabern noch nie ernsthaft angestrebt. Sie stammen zumeist aus den nördlichen Gemeinschaften. Für sie ist die Landfrage nicht so zentral wie für uns. 

Land, das wir verloren haben, ist aber immer noch da. Es ist besetzt von den Kindern derer, die es unseren Eltern gestohlen haben. Und deshalb sagen wir, dass eine Versöhnung oder eine Art von Harmonie für uns mit Gerechtigkeit beginnen muss. Wir können nicht von der Gegenwart und der Zukunft sprechen, ohne die Vergangenheit aufzuarbeiten. Ich kann nur dann sagen, dass wir in Harmonie zusammenleben können, wenn mir jemand zurückgegeben hat, was er mir gestohlen hat. Ich möchte Reue sehen, eine Dringlichkeit, das Unrecht der Vergangenheit zu korrigieren. In den Gemeinschaften der Farmer und in den nördlichen Gemeinschaften herrscht jedoch die Einstellung vor, dass wir die Vergangenheit vergessen müssen.

Die Herausforderung, vor der wir heute stehen, ist, dass es Menschen gibt, die Tausende und Abertausende Hektar Land besitzen. Eine einzige Person, ausschließlich Weiße, besetzt vier oder fünf kommerzielle Farmen mit einer Fläche von 20.000 Hektar Land oder mehr. Oft lebt sie dort nicht einmal. Sie nutzt diese Orte nur ab und zu zur Jagd, wenn sie aus Europa kommt. Die Mehrheit von uns dagegen ist in den sogenannten Reservaten zusammengepfercht. 

Wir sagen durchaus, dass die Kinder dieser Siedler leider oder zum Glück Mitbürger sind. Sie sind hier geboren, genau wie wir. Deshalb sagen wir: „Setzen wir uns an einen Tisch und entwickeln wir eine Formel, um zu teilen, was wir haben, damit wir alle in Würde leben und Familien gründen können, aber vor allem unseren Kindern etwas Wertvolles hinterlassen.“ Es wäre ein erster Schritt, wenn wir miteinander reden würden. Denn ein Problem, das wir jetzt auch in Namibia haben, ist, dass wir in weit voneinander entfernten Ecken des Landes leben. Es gibt eine große Kluft zwischen uns. Die deutschsprachige Gemeinschaft und wir, die Opfer der abscheulichen Verbrechen ihrer Vorfahren, kommen nie zusammen. Viele von ihnen wissen gar nicht, welches Leid ihre Vorfahren über uns gebracht haben. Sie wissen nicht, wie sie zu den Privilegien gekommen sind, die sie heute genießen. Wie viel Blut vergossen wurde, um diese Güter zu erwerben, die sie heute arrogant als die ihren ausgeben. 

Es wäre gut, wenn wir Plattformen schaffen, auf denen wir zusammenkommen und einige dieser Schmerzen mit unseren Brüdern und Schwestern aus den deutschen und afrikanischen Gemeinschaften teilen könnten. Ich spreche diese Einladung an alle aus, die sie aufgreifen und etwas daraus machen wollen. Als Ovaherero Genocide Foundation sind wir bereit, uns an einem solchen Unterfangen zu beteiligen. Ich glaube zwar nicht, dass viele diesem Aufruf folgen werden, aber ich glaube aufrichtig, dass es ein guter Ausgangspunkt für uns wäre, die Kultur zu verändern, das Denken zu verändern, die Narrative zu verändern. Und so könnten sich die Dinge vielleicht schon zu Lebzeiten unserer Kinder ändern. 
 

Ovaherero im Jahr 2023 bei einer Gedenkveranstaltung zum Genozid. Zu dem traditionellen Kleid tragen Ovaherero-Frauen Otjikaiva, den Kopfschmuck, der an die Hörner von Rindern erinnert.
Foto: © GfbV

Was würde sich für das Volk der Ovaherero ändern, wenn Deutschland den Völkermord anerkennen und Wiedergutmachung leisten würde?

Offensichtlich geht es bei Wiedergutmachung um Wiederherstellung. Es geht darum, zu reparieren, was man zerstört hat. Was wurde von uns zerstört? Alles: unsere gesamte Gesellschaft, vom Leben, der Lebensgrundlage bis hin zur Umwelt, der Kultur, der Sprache, der Religion, der Zugehörigkeit, der politischen Stimme und den Möglichkeiten für Wohlstand! Für uns ist die Geschichte des Völkermords keine Vergangenheit. Sie ist unsere Gegenwart. Und wenn sie nicht aufgearbeitet wird, ist sie auch unsere Zukunft, die Zukunft unserer Kinder.

Unsere Leute, die während des Völkermords die Flucht aus diesem Land durch die Kalahari in die fremden Länder Botswana und Südafrika überlebt haben, haben in diesen Ländern Kinder geboren. Diese Kinder haben heute kein Recht, nach Namibia zurückzukehren. Sie haben das Recht verloren, im Land ihrer Vorfahren zu leben. Wenn wir also von Wiedergutmachung sprechen, meinen wir viele Dinge. 

Die Rückgabe unseres Landes ist wie bereits gesagt zentral. In den Fällen, in denen das Land nicht zurückgegeben werden kann, werden wir das anerkennen. Das Land, auf dem ich gerade sitze, ist dafür ein Beispiel: Windhoek [Hauptstadt Namibias; Anm. d. Red.]. Das Land ist in ein städtisches Zentrum umgewandelt worden. Wir werden nicht dafür plädieren, dass Windhoek abgerissen wird, damit wir zurückkehren können. In solchen Fällen ist eine finanzielle Entschädigung für das, was wir verloren haben, gerecht. So könnten wir Land anderswo kaufen und uns niederlassen.

Außerdem wurden unserem Volk menschliche Überreste, vor allem Schädel, gestohlen. Menschen wurden ermordet und ihre Köpfe abgehackt und nach Europa verschifft für sogenannte wissenschaftliche Experimente. Diese Schädel liegen in vielen Universitäten und sind in ganz Europa ausgestellt. Einige Leute haben sie sogar in ihren Wohnzimmern und Schlafzimmern. Diese menschlichen Überreste müssen zurückgegeben werden und sie müssen eine angemessene Beerdigung erhalten, damit ihre Geister mit den Geistern unserer Vorfahren wiedervereint werden können. Nur so können sie dauerhaften Frieden finden. All dies sind Dinge, von denen wir zu Recht verlangen, dass sie zuerst erledigt werden, bevor wir uns auf Versöhnungsgespräche einlassen.

Völkermord und Wiedergutmachung sind heute eine weitgehend geklärte Frage des internationalen Rechts. Auf der Ebene der Vereinten Nationen und anderswo gibt es reichlich Literatur und Verständnis dafür, wie diese Dinge gehandhabt werden sollten. Wenn man einen Völkermord begeht, ist in der Konvention der Vereinten Nationen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords von 1948 ganz klar festgelegt, was man zu tun hat. Solche Verbrechen können auch nicht verjähren. 
Das Eingeständnis der Schuld ist ein wichtiger Schritt zur Heilung. In einer Entschuldigung, wenn sie denn aufrichtig ist, muss dem Opfer zugesichert werden, dass man das Verbrechen nicht wiederholen wird. Traumata werden sonst oft über Generationen hinweg weitergegeben. 

Ein Schuldbekenntnis hat Deutschland bis heute verweigert, denn es würde zur Wiedergutmachung verpflichten. Und Wiedergutmachung ist etwas ganz anderes als Entwicklungshilfe, wie sie jetzt zwischen der namibischen Regierung und dem deutschen Staat auf dem Tisch liegt. Entwicklungshilfe ist eine Praxis zwischen souveränen Staaten überall auf der Welt. Wir würden es nicht anfechten, wenn Deutschland dies für den namibischen Staat tun möchte. Das ist seine Sache. Aber es geschieht nicht in unserem Namen. Es sollte niemals in unserem Namen geschehen. Es ist kein Ausgleich für ein Verbrechen, das an uns begangen wurde und für das wir allein die Gerechtigkeit definieren müssen.
 

Nandiuasora Mazeingo leitet die Ovaherero Genocide Foundation (dt. etwa: „Stiftung zum Genozid an den Ovaherero“) in Namibia. Diese hält die Erinnerung an den Völkermord von 1904 bis 1908 wach. Im Dezember war Mazeingo in Deutschland, um mit Politiker*innen zu sprechen und auf die deutsche Verantwortung aufmerksam zu machen. Er ist Partner der Gesellschaft für bedrohte Völker.

Foto: © Privat

[Info]
Johanna Fischotter führte das Interview am 29. November 2023 per Videoanruf. Anschließend übersetzte sie es aus dem Englischen und kürzte es.



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