
Christen aus Afrîn feiern im April 2023 in einem Lager für Geflüchtete im Norden von Aleppo einen Gottesdienst. Doch seit November 2024 sind sie wieder auf Flucht vor türkischen Invasoren und islamistischen Söldnern.
Erste Zweifel an einem ungerechten Gott kamen unserem Autor schon als Kind – standen doch manche Lehren im Islam im Gegensatz zu der religiösen Toleranz, die er aus seinem Alltag in der kurdischen Region Afrîn kannte. Kleine und große Fragen um gestohlene Schuhe, die Sprache des Paradieses und die kurdische Identität ebneten schließlich seinen Weg ins Christentum.
von Issa Issa
Ich freue mich, Ihnen von meiner einzigartigen und wunderbaren Erfahrung zu berichten, die ich im Jahr 2008 gemacht habe. Aber zuerst möchte ich mich vorstellen: Mein Name ist Issa Issa. Ich komme aus dem Dorf Maidanki in der kurdischen Region Afrîn im Nordwesten Syriens. Ich bin verheiratet mit Nevin und wir haben zwei Kinder.
Zweifel an einem ungerechten Gott
Meine Reise zu einem anderen Glauben begann in der sechsten Klasse. Damals las mir der Lehrer im Religionsunterricht einige Verse aus dem Koran vor: Darin befiehlt Gott, dass jüdische und christliche „Polytheisten“ Steuern zahlen müssen, solange sie unter der Herrschaft der Muslime leben. Ansonsten sollten Muslime sie töten. Ich war erstaunt und fragte mich: „Gott hat den Himmel, die Erde und die Galaxien erschaffen. Er hat jeden von uns Muslimen so erschaffen, wie er es wollte, und daran gibt es nichts zu rütteln. Wie kann derselbe Gott von uns Muslimen verlangen, andere Menschen zu töten, die er ebenfalls selbst erschaffen hat? Wie könnte er uns befehlen, uns das Eigentum anderer anzueignen?“
Die Zweifel, die damals als Kind in mir keimten, wurden mit der Zeit immer größer. Mir wurde klar, dass ich einen solchen Gott nicht gerecht fand. Ich hörte auf zu beten und fastete nicht mehr. Immer wieder stellte ich mir die Frage: „Wer ist dieser Gott?“ Nach der Schule zog ich in die Stadt Aleppo, um an der dortigen Universität meinen Bachelor in Naturwissenschaften zu machen. Aleppo liegt etwa 60 Kilometer von Afrîn entfernt. In Aleppo begegnete ich Menschen anderer Religionen und sprach mit ihnen – zum Beispiel mit Christen. Es lebten damals noch viele Christen in Aleppo. Mir gefiel, was ich hörte. Könnte der Weg Jesu Christi der richtige Weg für mich sein? Als ich den christlichen Glauben in mein Leben ließ, fühlte ich mich plötzlich wohl in mir und fand Ruhe und Frieden. Ich fand Antworten auf meine vielen Fragen. Ich wurde ein anderer Mensch. Als ich an Weihnachten in das christliche Viertel Al-Aziziyah in Aleppo ging und sah, wie dort gebetet und die Messe gefeiert wurde, empfand ich ein Gefühl der Freude. Es stand in einem starken Kontrast zu Erinnerungen und Erfahrungen aus meiner Kindheit, die in mir aufstiegen.
Jedes Mal, wenn ich als Kind zum Beispiel zum Beten in die Moschee gegangen bin, waren meine Gedanken bei meinen neuen Schuhen. Monatelang hatte ich dafür gekämpft, dass meine Eltern sie mir kaufen. In einer Moschee muss man die Schuhe ausziehen und am Eingang zurücklassen. Ich war voller Sorge, dass jemand anderes meine Schuhe aus Versehen mitnehmen oder gar stehlen könnte. Ich glaube, viele betende Muslime sind mit ihren Gedanken nicht immer beim Gebet oder bei Gott, sondern bei ihren Schuhen. In einer Kirche würde mir das nicht passieren.
Gott versteht alle Sprachen
Zu meinen Zweifeln kam ein weiterer Konflikt: Als Angehöriger der kurdischen Volksgruppe hatte ich ein Problem mit der Sprache des Korans, die ich nicht verstand – Arabisch. Wir Kurden haben unsere eigene Sprache, das Kurdische. Als Muslim muss man den Koran jedoch auf Arabisch lesen – das ist nicht verhandelbar! Auch die Rezitation des Korans beim Gebet muss auf Arabisch erfolgen. Das hat mich sehr gestört. Parallel verfolgte auch die syrische Regierung damals einen Kurs, um das Kurdische zu verbannen und das Arabische zu fördern. Meine Überzeugung wuchs, dass weder die Regierung noch Allah unsere Muttersprache Kurdisch anerkennen wollten.
Im Christentum war das anders. Als ich mich für das Christentum entschied, bekam ich die Heilige Schrift in meiner Muttersprache. Das hat mich als jungen Mann sehr stolz gemacht und mir Sicherheit gegeben. Das Christsein hat so auch meine kurdische Identität gestärkt. Ich musste mich nicht aufgeben, weder meine Sprache, noch meine Kultur oder Traditionen – im Gegenteil: Das Christentum forderte mich, forderte uns auf, unsere Herkunft nicht zu verleugnen. Im Christentum versteht Gott alle Sprachen der Welt. Arabisch hat keine besondere Stellung oder ist gar „die Sprache des Himmels“, wie uns in meiner Kindheit immer gesagt wurde. Ich habe mich und das Kurdische in den Texten der Bibel wiedergefunden: Geschichten aus meinem Alltag, aber auch aus der Geschichte der Region Kurdistan, von Medern oder Mittani werden erwähnt. Diese Gebiete reichten vom 15. bis frühen 14. Jahrhundert vor Christus von der Grenze Nordmesopotamiens bis in den Norden Syriens. Die Meder waren die Vorfahren der Kurden. Und der Name meines Dorfes, „Maidanki“, lässt sich von ihnen ableiten.
Für mich war es plötzlich keine Frage mehr, zum kurdischen Volk zu gehören. Dies stand nicht mehr in einem Widerspruch zu meiner Religion. Auf der anderen Seite wurde mir klar, dass die Kurden in ihrer Heimat Kurdistan von der muslimischen Mehrheitsbevölkerung diskriminiert und verfolgt werden – und zwar auch durch die Instrumentalisierung der Religion Islam. Das ist ein Skandal!
Afrîn: gelebte Toleranz seit Jahrhunderten
Ich habe schnell einen neuen Glauben gefunden, weil ich in Afrîn geboren und aufgewachsen bin. Die Menschen und die Kultur dort sind viel toleranter als in den arabischen Nachbarregionen Syriens oder in der Türkei. Die alte Stadt Antiochia lag nicht weit vom heutigen Afrîn entfernt. Antiochia am Orontes, heute Antakya in der Türkei, war in römischer und byzantinischer Zeit die größte und bedeutendste Stadt im östlichen Mittelmeerraum. Sie war zweitweise die drittgrößte Stadt der Welt. Neben Rom, Konstantinopel, Alexandria und Jerusalem war Antiochia einer der fünf Sitze der Patriarchen der Christenheit. Von hier aus breitete sich das Christentum nach Armenien und Georgien aus.
In Afrîn finden sich überall Spuren der alten Christenheit: Ruinen von alten christlichen Klöstern und Kirchen. Das ist mit Sicherheit auch ein Grund dafür, dass die Kurden in Afrîn dem Christentum sehr offen gegenüberstehen. Ich habe oft gehört, dass Menschen aus Afrîn vom Islam zum Christentum konvertieren und sich taufen lassen.
Die Kurden in Rojava, der kurdischen Selbstverwaltung im Norden Syriens, sind friedliche Menschen. Sie akzeptieren die Multikulturalität – und das ist auch gut so! Diese Akzeptanz ist von entscheidender Bedeutung, damit Menschen verschiedener Religionen wie dem Yezidentum, dem Alevitentum, dem Judentum oder dem Islam in Frieden und Harmonie zusammenleben können. Die Autonomieverwaltung in Nordsyrien, gegründet zu Beginn der syrischen Revolte 2011, hat den Bau von Kirchen in Afrîn und in der Stadt Kobanî im Osten aktiv gefördert. Mein christlicher Glaube wurde noch einmal gestärkt angesichts des Unrechts, das der „Islamische Staat“ (IS) im Namen des Islam über weite Teile Syriens und des Irak gebracht hat. Die Terroristen griffen Christen, Yeziden, aber auch Muslime an, die den radikalen Islam ablehnten. Yezidische Frauen wurden zu Tausenden vergewaltigt und versklavt – ein Verbrechen, das nicht ungesühnt bleiben darf! Ich habe mich entschieden, mich zu wehren, indem ich glaube. Ich bin fest davon überzeugt, dass Gott im Christentum nicht hinterlistig, böse oder schädlich ist. „Auge um Auge“ wird abgelehnt. Deswegen ist es nicht Rache, für die ich bete, sondern Gerechtigkeit.
[Info]
[Der Autor] Issa Issa wurde in der Region Afrîn im Nordwesten Syriens geboren und ist dort aufgewachsen. 2008 konvertierte er aus dem Islam zum Christentum. Mittlerweile lebt Issa mit seiner Familie in Kanada.
Dr. Kamal Sido übersetzte den Text aus dem Arabischen und kürzte ihn
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